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Depression als Massenerscheinung

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In den letzten Wochen häuften sich in Österreich Fälle von Selbstmorden bei alten Menschen. „Häufig liegen die Ursachen dafür in Gefühlen der Hilflosigkeit, und darin, daß soziale Rollen für alte Menschen immer mehr verloren gehen”, meinte dazu die holländische Psychiaterin und Familientherapeutin Monika Jongerius-Joras... anläßlich eines wissenschaftlichen Workshops ... in Wien.

Jongerius weiter: „Hilflosigkeit und Sinnverlust sind wesentliche Faktoren in der Auslösung depressiven Verhaltens. Es ist auffallend, daß diese für alte Menschen gefährliche Situation besonders in Ländern mit hohem Industrieanteil, Betonung des Individualismus und Profitdenken stark zunimmt, also in den Ländern der sogenannten Ersten Welt.”

Äußerst bedenklich sei, so die Forscherin, daß nicht nur allgemein gesellschaftliche Faktoren eine Bolle spielen, wenn alte Menschen schwer depressiv werden, sondern - wie die Familienforschung immer deutlicher zeige - auch das Familienleben: „In etwa zehn Prozent aller Familien ist ein Verhalten dominant, das mit Depression in Verbindung gebracht werden kann.” Für Österreich würde das bedeuten: In fast 200.000 Familien schlummert sozusagen das „Virus der Depression”.

400 Millionen schwer Depressive

Nimmt man nur die Gruppe alter Menschen, steigt der Depressionsanteil drastisch weiter: 30 bis 50 Prozent aller über 65jährigen erleiden bis zu ihrem Lebensende mindestens eine Phase schwerer Depression, die es ihnen schwer bis unmöglich macht, ihren Alltag zu meistern. Depression ist für alte Menschen der häufigste Grund für eine psychiatrische Spitalsaufnahme ...

Man schätzt, daß bereites an die 400 Millionen Menschen zu den schwer Depressiven zu zählen sind, während es vor zehn Jahren noch rund 200 Millionen waren.

„Alte Menschen sehen sich vielen Vorurteilen ausgesetzt. So glaubt ein Großteil der Bevölkerung, daß

■ ältere Menschen nur noch stark eingeschränkte Interessen hätten,

■ körperlich überwiegend schlecht beisammen wären,

■ in ihren Familien eigentlich keine wichtige Rolle mehr spielten,

■ diverse als negativ empfundene Charakterzüge hätten (geizig, gierig, pessimistisch), asexuell seien und geistig nicht mehr voll zurechnungsfähig.

Darin zeigt sich, daß die Gesellschaft die Tatsache, alte Menschen für ihre Produktivität eigentlich nicht mehr zu brauchen, bemäntelt, indem sie sie quasi zu Sündenböcken macht, die selbst an ihrem Außenseiterdasein schuld seien.”

Vorurteil: Alte sind „selbst schuld”

Ein Ausweg liege darin, alten Menschen sinnvolle Rollen in der Gesellschaft zuzugestehen. Aber auch im kleineren Rahmen, innerhalb des Familienlebens, könne man vieles tun, um depressives Verhalten zu vermeiden, das sich oft in Mutlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Apathie, Lust-und Interesselosigkeit am Leben sowie in körperlichen Symptomen äußern kann. Jongerius: „Depressives Verhalten erfüllt immer eine Funktion. Es ist ein Zeichen der neurotischen Angst. Angst kann der einzelne haben, Angst kann aber auch das bestimmende Thema in einer ganzen Familie sein. Depressives Verhalten engt zwar die Freiheit des Denkens und Handelns stark ein, hat aber auch Schutzfunktion, ähnlich dem Tot-stellreflex mancher Tiere.

Bevor man daher das depressive Verhalten zu ändern beginnt, sollte man sich klar machen, was an dessen Stelle treten soll; oft entscheiden sich Familien nämlich eher für das bekannte Elend, um dem möglichen Glück auszuweichen, das zwar besser wäre, aber riskant ist und in einer Katastrophe enden könnte.” Alarmzeichen für möglicherweise gefährliche Depressionen von einzelnen und Familien ist die Neigung, sich zu isolieren, apathisch zu werden, nicht mehr genießen und sich selbst nicht mehr gut versorgen zu können - etwas, das für einen sehr großen Teil alter Menschen zutrifft und oft in der Katastrophe des Selbstmords oder in der sogenannten Pseudodemenz endet, das heißt, in einem Zustand, der dem geistigen Abbau ähnelt.

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