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Der Zuschauer

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Der Zuschauer gehört zum „Bau" wie der Held, wie der Charakterdarsteller, wie der Regisseur, die Souffleuse und der Bühnenarbeiter. Er ist mit dem Theater verknüpft, mit seinen Ursprüngen, seinen historischen Fundamenten, mit seinen Entwicklungsstufen, seinen Blütezeiten und Krisen. Fragt man ihn, was er von der „Situation des Theaters“ hält, wird er antworten, daß das Theater so sein solle, wie er ist, und zwar genau so wie er, satt oder hungernd, wissensdurstig oder abgeklärt, traurig oder lustig, bekümmert oder leichtsinnig. Vor allem aber immer um einige Tempi voraus, um einige Nuancen intensiver als er. Dann ginge es in Ordnung und er ins Theater. Und wenn es schon ein „spezielles“ Theater der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geben müsse, dann möge man sich eben erkundigen, wie er, ein Mensch der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aussehe, wie er lebe, was für Probleme er habe. Daher war auch die Situation des Theaters immer die Situation des Zuschauers. Es gibt unzählige Möglichkeiten, diese Situation festzustellen und zu kontrollieren, die Mittel hiezu reichen von der statistischen Uebersicht des Theaterbesuches bis zum vergleichenden Studium der Spielpläne und zur fachlichen Erläuterung des Stils (oder des Stilgewirrs oder der Stillosigkeit) — verstehen aber können wir die Situation des Theaters nur dann, wenn wir die Situation des Zuschauers verstehen. Sie entsteht außerhalb des Theaters, wie der Stil außerhalb des Theaters geprägt wird (und von keinem Regisseur „erfunden“ werden kann). Der Zuschauer bringt seine Situation — die ein Merkmal dafür ist, wie es um seine geistige Auffassung steht, wie er mit seinem Leben, mit der Weltordnung, mit der Politik, mit der Erziehung seiner Kinder fertig wird — ins Theater mit, wie er die Forderung mitbringt, daß das, was auf der Bühne vorgeht, sein Spiegelbild sein muß.

Im Theater wird theatergespielt, wie eh und je, und der Zuschauer sitzt — den zahlreichen und immer wiederkehrenden, anderslautenden Prognosen zum Trotz — im Theater wie eh und je, und für ihn ist es wichtig, w i e gespielt wird, einzig und allein dem gilt sein Interesse und keiner anderen Sache. Er weiß genau, welcher Art der dramatische Vorgang sein muß, damit er in eine spezielle Stimmung versetzt werde, und welcher Art die Interpretation dieses Vorganges sein muß, damit sie für die Erzeugung dieser Stimmung auch ausreiche. (Und er weiß, daß er sich gegebenenfalls an all das nicht hält, daran hat sich seit Aischylos nichts geändert.) Alles andere sind Fragen, die den „Fachmann“ interessieren, und für die wird nicht theatergespielt. Den enttäuschten Theaterbesucher hat immer und in erster Linie das W i e enttäuscht, selten das Was. Er macht sich in der Regel nichts aus einem schwachen Stück, wenn gut gespielt wurde, und schon gar nichts aus einem guten, wenn schlecht gespielt wurde, lieber die Qualität der Stücke liest er in der Zeitung — und denkt sich seinen Teil. Auch über die Gattung der Stücke gibt es für ihn keine Fragen; er besucht kein Drama, wenn er an diesem Abend lieber etwas „Lustiges" sehen möchte, und er wählt keine Komödie, wenn ihm nicht nach „Albernheiten“ zumute ist. — Und was die Aufführung betrifft: wie man Regie führt, weiß er nicht, er macht sich auch kaum Gedanken darüber, ob die Inszenierung wirkungsvoller war als das Stück, was Anteil des Regisseurs und des Autors ist. Er registriert nur die Gesamtwirkung, für ihn ist das (in den Rezensionen meist zuletzt genannte) Bühnenbild, als sichtbarer Rahmen für die schauspielerische Gestaltung und als fühlbares Instrument seiner Illusion, viel wichtiger — es ist sogar sehr wichtig. Im übrigen ist er bestechlich: seine Treue zu einem Schauspieler, der ihn schon oft ergriffen oder unterhalten hat, vermäg ihn ebenso zu bestechen (in diesem Fall bemerkt er gegebenenfalls sogar schwache Leistungen nicht) wie das sympathische Aeußere eines ihm Unbekannten, über den er sich noch kein Urteil gebildet hat, wie der Liebreiz einer Debütantin.

Der Zufall, der es fügt, daß ein Stück „haargenau“ die Färbung seiner momentanen Stimmung trifft, ist oft entscheidender, als Fragen allgemeiner Gültigkeit oder die außerordentliche Qualität eines Stückes. Private Umstände und unkontrollierbare Zusammenhänge, die es bewirken, daß er sich mit dieser oder jener Situation oder Problemstellung eines Schauspiels oder mit einer darin dargestellten Person ganz besonders identifiziert, beeinflussen ein günstiges, oft enthusiastisches Urteil in gleichem Maße, wie der Handlungsablauf oder das Verhalten einer dargestellten Person, das mit persönlichen Gefühlen, Begriffen der Moral oder selbst der politischen Ueberzeugung kollidiert, ein oft ungerechtfertigt abfälliges Urteil auslöst. Diesen subjektiven Beurteilungen entgeht kein Zuschauer, und mag er sie unterdrücken oder über die historischen Prinzipien und über die Technik des Theaters noch so viel wissen — und man kann es ihm nicht verargen, denn schließlich ist er (gottlob) keine Hollerithmaschine, konstruiert, um nach irgendeinem mechanischen System Theaterstile zu bewerten.

Man hat Bücher darüber geschrieben, wie der Zuschauer in Spannung zu versetzen ist, Dramaturgen geben Aufschluß darüber, wie ein Stück gebaut sein muß, damit es ihn fesselt, Gesetze einer jahrhundertealten Praxis beweisen und psychologische Abhandlungen verkünden ihr Forschungsergebnis, welcher Mittel es bedarf, um ihn zu illusionieren oder seine Phantasie anzuregen. Und dann kommt er und es ereignet sich das Phänomen, daß ein Funke einen jahrtausendealten Strom entfacht, der Bühne und Zuschauerraum verbindet — oder es ereignet sich nicht. Der Zuschauer hat keine Ahnung von dem, was geschrieben steht, und er kümmert sich nicht darum, er hat nur seine ganz bestimmte Vorstellung davon, was er zu sehen wünscht, und er hält an ihr fest und er verkündet sie — und dann ereignet es sich plötzlich, daß er sich nicht daran hält, und die Fachbücher haben auch geirrt.

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