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Die Krise der Phantasie

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Gibt es heute eine Krise der Phantasie? Wenn wir die Literatur der letzten dreißig Jahre betrachten, scheint diese Frage berechtigt. Gründe für diese Erscheinung gibt es viele. Mancher hat Jahre hinter Stacheldraht verbracht und fühlt heute das Bedürfnis, anderen die Frucht seiner Überlegungen mitzuteilen, die für ihn selbst eine so entscheidende Bedeutung gehabt haben. Andere wieder haben an außergewöhnlichen Ereignissen teilgenommen und fühlen sich verpflichtet, ihre Geschichte in grober Wahrheitstreue wiederzugeben; denn die Besonderheit des Geschehens erscheint ihnen schon ein ausreichender Grund für die Schöpfung eines Kunstwerkes. Auch die große Vorliebe unserer Zeit für eine gewisse unglückselige Alltagspsychologie, durch die das einfachste seelische Erlebnis mit dem Vergrößerungsglas eines verdorbenen Freudianismus in riesige Dimensionen hinaufgesteigert wird, spielt hier eine wesentliche Rolle. Tatsächlich ist der zeitgenössische Schriftsteller — verfangen in der Illusion, daß schon der Gegenstand eines Werkes ein autonomes Element der Schönheit sei — immer mehr der verhätschelte Heid seiner eigenen Werke geworden. In allen Ländern überschwemmt die Tagebuchliteratur den Markt; wir ertrinken in den mehr oder weniger maskierten Bekenntnissen.

Vor einigen Jahren sagte einmal ein bedeutender italienischer Kritiker, daß in den goldenen Zeiten aller Literaturen die Männer über Roland, Hamlet, den Grafen Ugolino, Don Rodrigo schreiben; während die Frauen ihr Herz über das Papier ausschütten und sich in dem Spiegel ihrer Bücher betrachten. Heute hat die Literatur vieler Länder diesen reflektierenden femininen Charakter; auch in der Vorliebe für eine gewisse im Grunde unkünstlerische Unmittelbarkeit, die jeden halben Gedanken, jedes kleine Gefühl ungeheuer wichtig nimmt und die psychologische Selbstvergötzung auf die Spitze treibt. Meist ist es die Vergötzung der eigenen Kindheit: wir erleben das Schauspiel von Schriftstellern, die kaum älter als zwanzig Jahre zählen und die ihre Kindheit mit dem Abstand betrachten, mit dem man von ferne auf ein verlorenes Paradies blickt, wobei diese Betrachtung künstlerisch nur allzuoft so falsch wie möglich klingt,

Während diese Erscheinung einerseits zu jener neoromantischen Atmosphäre gehört, die uns heute alle zu beherrschen scheint, so hat sie auf der anderen Seite doch die positiven Werte der Romantik nicht fruchtbar zu machen verstanden. Gewiß soll man der sogenannten schöpferischen Literatur keine Ratschläge erteilen; aber man muß sich wirklich fragen, ob — wenn schon das romantische Erlebnis wiederholt werden mußte — es nicht besser gewesen wäre, jenen alten und unfruchtbaren Kult der Unreife (wahre Entartung des mystischen Prinzips der Kindheit, das wir gerade in der reifsten Romantik nicht finden) beiseite zu lassen; und statt dessen jene fruchtbareren und kräftigeren, auch heute noch entwicklungsfähigen Motive aufzunehmen, wie das naturalistische, spiritua-listische, religiöse und moralische Motiv.

Das Unglück eines großen Teils unserer Schriftsteller ist wirklich ihre Unfähigkeit, von sich selbst loszukommen, mit anderen Worten der Mangel an Phantasie; und da die Phantasie ein unerläßlicher Faktor des künstlerischen Schöpfungsprozesses ist, erklärt sich daraus das Scheitern so vieler literarischer Versuche. Man soll nicht mit der Behauptung kommen, daß die Menschen heute Realität wollen, das alte „menschliche Dokument“ und nicht erfundene Abenteuer. Das allzuoft gebrauchte und mißbrauchte Wort „Realität“ bedarf der Klarstellung. Es gibt eine psychologische und eine künstlerische Realität; die beiden Dinge gehen nicht immer Hand in Hand. Wie oft hat man nicht in den Jugendwerken irgendeines großen Schriftstellers bemerkt, daß das Gefühl, das ihn antreibt, ehrlich und stark ist, aber der Vers, der daraus hervorwächst, tönt falsch, weil die Gewalt des Empfindens allzusehr die Erfahrung des Ausdrucks überragt und sich daher mit irgendeinem alten und abgegriffenen Bild abfinden muß. Es ist mehr Realität im phantastischesten Gesang der „Divina Commedia“ als in tausend und abertausend Seiten des zeitgenössischen autobiographischen Verismus. Das erstaunlichste aber ist die Tatsache, daß, während in ruhigen und brühenden Welten, wie etwa in den italienischen Fürstensitzen der Renaissance, die Dichtet ihre Helden bis in den Mond führten, heute, da die lastende Tragödie doch zum Ausweichen drängen müßte, die Schriftsteller mit unvergleichlicher Zähigkeit immer wieder äje alten ausgetretenen Pfade der Autobiographie beschreiten.

Es hilft nichts, daß erlesene Geister, wie T. S. Eliot, wiederholt die Schriftsteller vor dem allzu einfachen Ausschütten der eigenen Herzensregungen über das geduldige Papier gewarnt haben. Schon Carducci machte sich über jene lustig, die ihr blutendes Herz im

Knopfloch tragen „wie die Rosette der Ehrenlegion“. Dieser Egoismus ist in Form persönlicher Geschmäcker und Sympathien sogar in die Kritik eingedrungen, die doch das eigentliche Feld klarer, universeller Urteile sein sollte. Und die Leute lesen begierig Tagebücher und Bekenntnisse mit dem Genuß, mit dem sie Salonklatsch und Indiskretionen zuhören. Bestsellers stürzen von allen Himmelsrichtungen auf uns ein; Bücher, die in zehn Jahren niemand mehr lesen wird und die heute schon niemand ein zweitesmal lesen möchte, werden für geniale Schöpfungen gehalten; Zeitungen und Zeitschriften sprechen davon wie von wahren Offenbarungen und die Verleger stürzen sich darauf, um sich die übersetzungsrechte zu sichern. Ein Beispiel für viele ist der amerikanische Schriftsteller Marquand, einer der erfolgreichsten Romanciers der Neuen Welt. Er schreibt wohl nicht in erster Person; aber er ist — wie er selbst eingestand — doch immer selbst der Hauptheld seiner Romane; ein Buch nach dem anderen erhellt dieselbe, bis zum Überdruß bekannte Situation, seine eigene, ohne auch nur die Wohltat verschiedener Lösungen zu gewähren; denn wenn sich diese Lösung ihm nicht wirklich in seinem Leben gezeigt hat, ist er unfähig, sie zu schaffen.

Man wird sagen, daß das, was heute interessiert, gerade der Durchschnittsmensch ä la Marquand ist. Aber auch das ist eine ungebührliche Vereinfachung. Als ob es den Durchschnittsmenschen wirklich gäbe! Hamlet, Lady Macbeth, Graf Ugolino gibt es heute in jedem Lande, man braucht nur die Spalten des Polizeiberichts anzusehen. Und als ob die kleinen preziösen Reflexionen des Herrn Jedermann an sich genommen, im Zustand freundschaftlicher Aussprache oder des Salonklatsches, wie sie in 99 Prozent dieser Romane erscheinen, wirklich interessant wären! Es gibt dann gewiß den hundertsten Fall, jenen des „Malte Laurids Brigge“ zum Beispiel, oder der „Vita Nuova“; wo das individuelle Erlebnis ganz in künstlerischer Schöpfung von universeller Geltung aufgehoben erscheint und das Interesse an dem persönlichen Geschehen gleich ist dem wunderbaren Schwung der Phantasie. Aber gewöhnlich fehlt heute leider meist dieses letztere Element; und es bleibt nichts übrig als das ungeheure Interesse, das jeder Mensch, nicht nur jeder Schriftsteller, für sein eigenes Innenleben empfindet. Das aber genügt nicht, um ein Kunstwerk zu schaffen; es genügt höchstens, um jenes Verlangen nach der Befriedigung schwatzhafter Neugierde aufzustacheln, das heute so oft über den literarischen Ruf eines Werkes entscheidet.

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