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„Die Stillen sind die Starken"

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Es scheint, daß Gott als Kind durch unsere Tage geht. Wie ahnungslos um das Schicksal, das so viele Menschen zu zerbrechen droht, um ihre Angst, die sie in die fröhlichsten Stunden hinein verfolgt, um die Gewalttat, die auf sie lauert um das Flüchtlingselend, das ihnen heute und morgen beschieden sein kann; wie verständnislos für die bittere Sehnsucht der Erwachsenen nach Ruhe und Geborgenheit, für ihre Qual, die sie zur Verzweiflung drängt; wie fassungslos und ohnmächtig zugleich gegenüber dem Bösen, das wild und berechnend, schlau und kalt sich seine Opfer sucht und sie hineinzerrt in Schmutz und Tod. Wo ist Gott, den der Glaube den Herrn der Geschichte nennt? Wann „weckt er auf eine Macht und kommt"? Es scheint, er ist für unsere Tage wirklich nur das Kind von Bethlehem, wie es vergangene Weihnachtspoesie zum freundlichen Licht harmloser Idylle gemacht hat, er ist das hilflose Flüchtlingskind, da atemlos über die Grenze gebracht wird und andere für sich sterben läßt, er ist ein Wesen, das sich in das Schweigen der Wüste gehüllt hat und der fernen Verbannung. Wenn aber Gott ein Kind ist, nur ein Kind dann sind wir ihm nicht böse: wir haben ja Verständnis mit jedem Kind, wir schonen es, wenn es uns im Wege ist; wir verzeihen ihm seine Ungereimtheiten; wir geben ihm aber auch zu verstehen, daß es sich in die Angelegenheiten der Erwachsenen nicht einmischen soll, und wenn es uns unangenehme Fragen stellt, tun wir es mit ein paar netten, unverbindlichen Worten ab: es ist ja nur ein Kind, es versteht ja nicht, was das Leben ist. Sein Geburtstag ist uns ein willkommener Anlaß, andere zu beschenken und uns selbst beschenken zu lassen; wir nehmen es darum gerne auf für den Heiligen Abend und verabschieden es wieder für das kommende Jahr. Ja, es scheint, daß Gott als liebes, harmloses Kind durch unsere Tage geht.

Aber seltsam: wir können ein Jahr lang ungerührt an Kindern vorübergehen, nicht am Kind der Weihnacht. Es ist nicht bloß unser innerstes Heimweh, das heute nach Erschütterung und Zusammenbruch der stolzesten Werke irdischer Intelligenz und Macht mehr denn je dem Kinde näher ist als dem Mann, der vertrauenden Demut näher als dem hochmütigen Bewußtsein eigener Leistung; es ist vielmehr das Wissen: dieses Kind ist bei uns bis an das Ende unserer Tage, bis an das Ende der Welt. Mag es darum scheinen, daß Gott als Kind durch unsere Tage geht, so gilt noch mehr: dieses Kind ist wirklich Gott, es ist das Kind, da als Gott durch unsere Tage geht.

Durch alle unsere Laune und Willkür, durch unseren Dünkel und unsere hochmütige Verzweiflung schreitet Gott als das immerwährende Gleichgewicht der Welt. Inmitten des immer wieder sich erschöpfenden menschlichen Raubbaues ist er die unversiegbare Verschwendung. Scheinbar erstickt vom leidenschaftlichen Schreien menschlicher Gemeinheit und Selbstsucht und Falschheit, spricht er, wenn jene längst in Heiserkeit und Stummheit erloschen sind, unüberhörbar sein stilles erlösendes Wort. Beschwörend gerufen von menschlichem Leid, schenkt er ihm sich selbst als Tröster und Vergeltung zum Sinn. Aber Gott geht durch unsere Tage nicht bloß als Erfüllung, sondern auch als Verheißung immer neuen Beginnens: wäre er nur der allmächtige und allwissende Gott, wir könnten uns fürchten vor seinem undurchdringlichen Geheimnis, in dem seit Ewig-, keit unser Schicksal ruht, und vor seinem heiligen Willen, der unbeirrbar seine Wege geht. Aber dieser Gott ist Mensch geworden und Kind; nach allen Enttäuschungen schenkt er neue Hoffnung, nach allem Zusammenbruch schenkt er neuen Anfang.

„Weihnacht, das Pseudonym für Gott, da er klein war:“ immer dann, wenn Gott „klein“ erscheint in der Geschichte, wenn er durch die Tage zu gehen scheint als Kind in der Stille der Wahrheit, die niemals Lärm macht, in der Selbstverständlichkeit der Güte, die keinen Anspruch erhebt, in der Verschwiegenheit des Wissens, da mit der Enthüllung warten kann, dann erkennen wir darin das Zeichen, daß ein neues Zeitalter im Kommen ist, daß die Menschheit von ihrem Greisenalter erlöst und ihr ein neues Kindesalter geschenkt wird. Und das göttliche Kind ruft nach den Kindesnaturen unter den Menschen, nach den Stillen im Lande und erwählt sie zu Sinnträgern der neuanbrechenden Zeit. Es sind nicht die Genies und die schlauen Manager, weder die großen Politiker noch die weltgewandten Experten, die eine neue Zeit heraufführen werden — denn sie alle müssen, wollen sie vor der Geschichte bestehen, vor diesem einen Kinde ihre Schätze niederlegen, um es anzubeten —, sondern jene einfachen Menschen, die mit der Absolutheit des Kindes den Weg des göttlichen Kindes gehen. Immer noch hat das Volk jenen gehorcht und ist jenen gefolgt, die es am meisten geliebt und ihrn am besten gedient haben, denn nicht jene führen im letzten die Menschheit, die sie durch Gewalt zu beherrschen suchen, sondern die ihm in selbstloser Hingabe dienen.

Der Lärm vergangener Jahrzehnte und der Gegenwart hat die Menschheit aus allem Schlaf herausgerissen und wach gemacht und hellhörig: nicht nur für die Explosionen neuer Waffen, sondern für das Schreiten des Kindes, das die frohe Botschaft der Erlösung und des Friedens bringt; und die Enttäuschungen allen Scheins und aller Uniformen haben sie hellsichtig gemacht für den inneren Wert der gütigen Menschen, denen sie täglich begegnen: denn immer, wenn die Macht des Bösen wächst,

wächst auch die Macht des Güten, und bliebe auch nur ein Mensch, der von Güte und Wahrheit erfüllt ist, bliebe er im Namen und in der Kraft des menschgewordenen Gottes Sieger.

Zu Weihnachten 1941 schrieb einer unserer Besten, der 1944 in Rußland gefallen ist, Fritz Mankowski, an seine „kleine Schwester“: „Es ist viel Lärm und Dunkel in der Welt, aber die Stillen sind die Starken, und die Geduldigen sind die Lichtträger des Reiches, das kommt, nicht groß und gewaltig mit äußerer Macht; arm, still, aber unbesieglich wächst es überall dort, wo Menschen dem Dunkel Stück für St

Boden abringen in sich selbst und frei werden für die Fülle der Gnade.“

Am Heiligen Abend dieses Jahres öffnet ein silberner Hammer in der Hand des Papste in St. Peter die „Porta Santa“ des Heiligen Jahres. Im Gedächtnis an die Stunde, da Gott Mensch geworden ist und Kind, da Gott aus seiner Allmacht hinabstieg in die menschliche Ohnmacht, um einer von uns zu sein, beginnt da Jahr der gnadenvollen Verheißung: denn seitdem ist denen, die ihm gleich werden, Gegenwart und Zukunft anvertraut.

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