Storch - © Foto: Pixabay

Die unerklärliche Welt der Erwachsenen

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Ilse Molzahn bildet in „Der schwarze Storch“ eine Kunstsprache in kurzen, einprägsamen Sätzen aus, die nicht vorgibt, sich gleichsam osmotisch in das Fühlen und Denken eines Mädchens eingeübt zu haben. Unser Lektorix des Monats.

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Ilse Molzahn bildet in „Der schwarze Storch“ eine Kunstsprache in kurzen, einprägsamen Sätzen aus, die nicht vorgibt, sich gleichsam osmotisch in das Fühlen und Denken eines Mädchens eingeübt zu haben. Unser Lektorix des Monats.

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Katharina ist mit ihren sechs Jahren ein aufgewecktes Mädchen. Sie wächst um 1900 auf einem Gutshof in der Provinz Posen auf und ist angewiesen auf einen scharfen Blick, um sich in der Welt zu orientieren. Mit anderen Kindern ist ihr der Umgang verboten, immerhin ist sie etwas Besseres. So beobachtet sie die Großen und macht sich einen Reim auf die Welt, die sie nicht so recht versteht. Der verfremdende Kinderblick macht den Reiz des Romans „Der schwarze Storch“ aus, der 1936 bei Rowohlt, einer schon damals renommierten Adresse, herausgekommen ist.

Die Verfasserin war die 41-jährige Ilse Molzahn, eine Unbekannte, der mit ihrem Debüt gleich ein großer Wurf gelang. Die ernsthafte Kritik erkannte den Wert des Buches, die Nationalsozialisten verhinderten eine zweite Auflage, soll doch die „Herabsetzung des deutschen Junkertums“ nicht ins Konzept der engstirnigen Kulturpolitik gepasst haben. Das ist eines der Bücher, das aus zeithistorischen Gründen auf der Strecke geblieben ist und trotz einiger Versuche, es im Bewusstsein späterer Generationen zu verankern, die breitere Öffentlichkeit nicht erreicht hat. Der Neuauflage im Wallstein Verlag ist ein besseres Schicksal zu wünschen, tun wir uns selbst doch nichts Gutes, höchste Qualität schnöde zu ignorieren. Nicht einmal der Name der Autorin ist heute noch ein Begriff. Ilse Molzahn (1895– 1981) heiratete den expressionistischen Maler Johannes Molzahn, schrieb Artikel, mit denen sie bisweilen den Unmut der Konservativen erregte, und bemerkenswerte Literatur.

Der Roman geht ein Wagnis ein. Sich literarisch einen kindlichen Blick anzueignen, kann in einem kindischen Desaster enden. Molzahn bildet eine Kunstsprache in kurzen, einprägsamen Sätzen aus, die nicht vorgibt, sich gleichsam osmotisch in das Fühlen und Denken eines Mädchens eingeübt zu haben. Es bleibt ein distanzierender Moment der Fremdheit. Eine eigene Logik arbeitet im Mädchen, in der Fantasien und Träumen der gleiche Platz eingeräumt wird wie den Ereignissen im Alltag. Die Autorin lässt sich nicht reinfallen in ein so anderes Ich, auch wenn die eigene Biografie Vorbildcharakter gehabt haben mag, sie belässt es bei einem Annäherungswert. Entscheidend ist, dass dem Kind vieles unerklärlich bleibt, was sich in der Welt der Erwachsenen abspielt. Gerade mit der ohnehin tabuisierten Sexualität, die dem Kind unter Knechten und Mägden vor Augen kommt, weiß es wenig anzufangen.

Dass eine Wirklichkeit, die nicht platt in einem einfachen Erzählrealismus abzubilden ist, Hans Erich Nossack dazu bewogen hat, sich für das Buch einzusetzen, leuchtet ein. Dass auch er heute ein weitgehend Vergessener ist, ist ein anderer Skandal.

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