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Ganz außer der Reihe

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Es war. eine Sensation für die musikalische Fachwelt, als sich vor 10 Jahren Strawinsky, der französisch-russische Neoklassizist, der Altmeister der Moderne, plötzlich, in seinem „Septett“ für drei Streicher, drei Bläser und Klavier, der Reihentechnik bediente. Zwar noch nicht, wie in seinen späteren Stücken, der do-de-kaphonischen Ordnung, sondern zunächst achttöniger „rows“ — aber immerhin! Trotz der „Konstruktion“ zeigte dieses dreiteilige Septett, das auf eine konzertante Introduktion eine Passacaglia folgen läßt und mit einer brillanten Gigue schließt, die unverkennbare Handschrift Strawinsky? — was man von einigen der folgenden Kompositionen leider nicht mehr unbedingt behaupten kann. Trotz aller persönlichen Differenzierungen durch den betreffenden Ausdrucksstil hat diese Technik doch etwas Nivellierendes — in jedem Sinn. Hinzu kommt die aphoristische Kürze, zu der sie anleitet. — Kürze und Konzentration sind sicher sehr schätzenswerte Eigenschaften, aber ein Musikstück braucht — zumindest im Konzertsaal — eine gewisse Dauer (und seien es auch nur drei Minuten), um anzulaufen und den Zuhörer anzusprechen. Sehr komprimierte Musik erfordert auch eine entsprechend konzentrierte Aufmerksamkeit, und es war ein Fehler (übrigens der einzige) des letzten „Reihe'-Konzerts Im Mozart-Saal; allzu viele solcher Miniaturen aneinandergereiht zu haben.

Es gab nämlich im Verlauf dieses Konzertabends mehr als zwei Dutzend dieser Sätzchen und Liedchen, und da bleibt dem Besucher nachher nicht viel mehr als die Erinnerung an ein farbenprächtiges, hochinteressantes Kaleidoskop. Auch wenn dieses Kaleidoskop so markante Einzelteile aufzuweisen hat wie Strawinskys „Rag-Time pour 11 instru-ments“ von 1918, unter dem ersten, aber nachhaltigen Eindruck geschrieben, den die neuen, aus Amerika kommenden Jazzplatten auf den Komponisten gemacht hatten, zugleich der früheste (und gelungenste) Versuch, eine Art „Porträttyp“ dieser Musik zu entwerfen. Das einsätzige witzifj-sarkastische Stück mit seinem harten Bläserklang und seinen trockenen Synkopen würde sich glänzend als Ballettmusik eignen. Unseres Wissens hat es aber noch kein Choreograph entdeckt.

Wohl das bedeutendste Werk dieses Konzertes war Strawinskys Blä-seroktett aus dem Jahr 1923: drei ungemein konzise, charaktervolle Sätze (Sinfonia, Thema con Variazioni und Finale), bei deren Ausführung die acht tüchtigen Bläser die Anweisunsen des Komponisten genau befolgten: die Einsätze der verschiedenen Instrumente zu schärfen, Luft zwischen den musikalischen Phrasen zu lassen, sorgfältig zu intonieren und die Tonstärke sowie die Verteilung der Akzente zu beachten. — Mit den Miniatur-Liederzyklen Strawinskys hatten wir geringere Freude. Drei davon wurden zwischen 1911 und 1918 geschrieben und meist wesentlich später instrumentiert: kleine kuriose Kunstwerke, gewiß, aber für den Konzertsaal wenig geeignet. Am künstlichsten sind die späteren, bereits nach dem Septett, also in Reihentechnik geschriebenen drei Shakespeare-Lieder geraten, in welchen die Eigenart Strawinskys kaum noch ausgeprägt ist; das weitaus effektvollste ist „Tilimbom“ aus einem russischen Kinderliederzyklus.

Marie Therese Escribano war die treffsichere und unerschrockene Interpretin dieser Miniaturgesänge. Russische Texte in der Originalsprache vorzutragen ist nur dann sinnvoll, wenn man wenigstens eine Ahnung von der Sprache und ihrer Phonetik hat. Sonst entsteht ein schreckliches Kauderwelsch, das dann ebenso falsch und unkünstlerisch ist wie die schlechteste Übersetzung (nur hat man, ohne Kompensation, die Textver-ständlichkeit geopfert!).

Ravel, der zweite Komponist dieses Konzerts, war mit der von Beatriz und Walter Klien vorgetragenen Klaviersuite zu vier Händen „M a m e r e l'o y e“ und Drei Liedern auf Texte von Stephane M a 11 a r m e mit Begleitung von Klavier, zwei Flöten, zwei Klarinetten und Streichquartett vertreten. Obwohl diese Musik von höchster klanglicher und harmonischer Differenziertheit ist und durchaus mit ihr die Absicht des Komponisten realisiert wird, „das in die Tiefe dringende Preziöse“ der Mallarmeschen Poesie wiederzugeben, kennt Ravel keine Stilisierung, kein System. — In eine noch naivere und glücklichere Zeit — in der übrigens die bedeutendsten Neuentdeckungen auf dem Gebiet der Harmonik und der Timbres gemacht wurden — reicht Ravels fünfteilige Märchensuite „Von meiner Mutter, der Gans“ zurück, die er 1908 für die Kinder seiner Freunde, des Ehepaares Go-debski, schrieb und die in der Originalfassung (später hat Ravel die Suite für Orchester instrumentiert) zwei Jahre später in der „Societe Musicale Idependante“ in Paris uraufgeführt wurde. Und zwar, auf Wunsch des Komponisten, von zwei kleinen Mädchen in weißen Kleidern ... Im ganzen: ein interessantes, eher gefälliges Konzert — ganz außerhalb der „Reihe“, wie wir sie kennen.

Neuere Musik gab's auch im Klavierabend von Shura Cher-kassky im Großen Musikverein s s a a 1 : Alban Bergs noch ganz in spätromantischem Chromatismus schwelgende Sonate op. 1, „LT s 1 e j o y e u s e “ von Debussy und Drei St ü c k e aus „P e t r u s c h k a“ von Strawinsky. Den 1. Teil des langen und anspruchsvollen Programms bildeten zwei halbstündige Werke: Schumanns Sonate fis-MolI und M u s-sorgskys „Bilder einer Ausstell u n g“, denen Mendelssohns „Rondo capriccioso“ vorausging. Shura Cherkassky, den wir wiederholt als ebenso brillanten, wie temperamentvollen Solisten großer Klavierkonzerte bewundert haben — dieser kleine Mann mit dem sehr ausgeprägten ostslawischen Gesicht —, besitzt erstaunliche physische Kraft und eine Sensibilität, die, wie man etwa in der langatmigen und wenig dankbaren Schumann-Sonate und bei einer Zugabe, dem Valse cis-Moll von Chopin, feststellen konnte, keineswegs nur in den Fingerspitzen ihren Sitz hat. Cherkassky ist ein glänzender Techniker und ein intelligenter, feiner Musiker, der ein großes Auditorium einen Abend lang in Atem zu halten versteht. Das Publikum war mit Recht begeistert und feierte Cherkassky — dem Programm und der Leistung des Künstlers entsprechend — mit lang anhaltendem und temperamentvollem Beifall.

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