Ruine - © Foto: iStock/santoelia

„Heul doch nicht, du lebst ja noch“: Beschädigtes Überleben

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Der neue Roman von Kirsten Boie erhält den Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur.

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Der neue Roman von Kirsten Boie erhält den Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur.

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Die Zeit des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges wurde in der Jugendliteratur schon oft und variantenreich thematisiert, in den letzten Jahren wird dabei zunehmend auch die Zeit des Kriegsendes und unmittelbar danach in den Blick genommen. Kirsten Boie, eine der renommiertesten und produktivsten Autorinnen der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, hat bereits 2021 mit „Dunkelnacht“ eine beklemmende Novelle über ein wenig bekanntes Endphaseverbrechen, die Mordnacht im bayrischen Ort Penzberg, vorgelegt.

Ihren neuen Roman siedelt sie in ihrer Heimatstadt Hamburg an, die Handlung setzt im Juni 1945 ein. In der zerbombten Stadt herrschen kurz nach Kriegsende Chaos und Zerstörung, Strukturen wie Schulunterricht oder angemessene Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Kleidung fehlen. Der Text erzählt in wechselnden Perspektiven von drei Jugendlichen, die der Krieg auf unterschiedlich beschädigte Weise zurückgelassen hat: Hermann leidet darunter, dass sein Vater im Krieg beide Beine verloren hat und nun launisch, vor allem aber völlig verzweifelt das Leben der Familie für immer zu dominieren scheint. Jakob wurde nach der Deportation seiner jüdischen Mutter in einer Ruine versteckt und hat noch gar nicht mitbekommen, dass der Krieg vorbei ist und die Besatzungsmächte regieren.

Traute wiederum ist genervt von der Familie, die in ihrer Wohnung einquartiert wurde, und vermisst ihre Freundinnen genauso wie den geregelten Schulalltag. Ein Zufall lässt die drei so unterschiedlichen Figuren aufeinandertreffen. Je mehr sie voneinander, aber auch von den Schicksalen anderer Menschen, die den Krieg überlebt haben, erfahren, desto mehr beginnt ein Prozess, der wohl gesamtgesellschaftlich, wenn überhaupt, viel später eingesetzt hat: die Erkenntnis, dass bei aller berechtigten Verzweiflung über das eigene erlittene Leid auch andere Menschen schlimme Erfahrungen, oft in ganz anderen Dimensionen, machen mussten. Und natürlich, vor allem für Hermann, die bittere Einsicht, all die Jahre einer perfiden Propagandamaschinerie aufgesessen zu sein.

Boie setzt stimmig sprachliche Wendungen und Begriffe der erzählten Epoche ein, einige davon werden in einem Anhang erklärt und historisch eingeordnet. Auch die um die Hauptfiguren kreisende Figurenkonstellation überzeugt: Hier gibt es keine Liebesgeschichte, nicht einmal eine wirkliche Freundschaft, die drei treffen in einer Ausnahmesituation aufeinander und lernen etwas voneinander. Dennoch steht am Ende die Hoffnung auf einen Neubeginn: „Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut.“

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