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Leonardo — physiognomisch gesehen

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Leonardo da Vinci gibt in seinem Traktat über die Malerei Anweisungen zur sinnhaften Darstellung der menschlichen Gestalt und besonders des menschlichen Gesichts, er weiß Formen, Geste und Mienenspiel zu deuten und rät dem Maler, mit gleichem Bestreben sich in die Erscheinung des Leibes zu vertiefen. Man kann Leonardo deshalb, vor allem aber wegen seiner Erfindung und Darstellung sinnhaft einmaliger Gesichter, einen Physiognomen nennen. So ist es also wohl verstattet, die von ihm selbst empfohlene Methode auch auf seine Erscheinung anzuwenden.

Wem Werk und Leben Leonardos lebendig wurde, dem wird nur sein Selbstbildnis aus der Turiner Bibliothek dem Wesen dieses unfaßlich universellen Mannes ähnlich erscheinen. Es wird ihm deshalb sonderbar vorkommen, daß die dürftige Schülerzeichnung aus der Sammlung des Schlosses Windsor jemals als eine aus seiner eigenen Hand angesehen wurde, denn weder die Züge noch die Ausströmung verraten etwas von der magischrätselhaften Kraft, mit der der Kopf der Turiner Zeichnung geladen ist. Dieses Haupt erinnert an keines irgendeines anderen Menschen. Obwohl anders geformt, ähnelt es in seiner rätselhaften Größe dem Sphinx von Giseh. Die Kuppelmacht seines Schädels ist von so kühner Gewölbtheit und so füllegeladen, daß sich die Sphäre des Makrokosmos in deren Bau ein Abbild geschaffen zu haben scheint. Wie in allen Leibdarstellungen Leonardos wird dem Betrachter auch die nicht sichtbare Seite deutlich, so daß er die hintere Hemisphäre dieser Schädelkuppel zu sehen, ja zu umtasten glaubt. Aus dieser königlichen Stirne wächst eine ungeheuer kraftvolle, hell witternde Nase, die mit nur schwacher Einsenkung sich ins Gesicht baut. Der scharf gezeichnete Mund scheint im Schweigen geschlossen, denn seine sinnlich schwere Unterlippe preßt sich gegen die schmale Oberlippe. Diesem Antlitz verleihen die tief liegenden, von buschigen Brauen überschatteten Augen rätselvolle Macht. Diese schauenden und erkennenden Augen säugen auch in sich hinein; ihr Blick erfaßt und zieht zugleich in unergründliche Tiefe. Sie offenbaren unendliche Fülle des Erlebten und Erlittenen, vor allem aber die Leidenschaft des Befragens und Entdeckens. Sie versöhnen mit dem Ausdruck des Widerwillens, ja Ekels, der die Lippen schmerzlich nach abwärts krümmt; sie verraten, daß Leonardo in einer früheren Lebensphase die Lust wohl erfahren hatte. Die unter dem Jochbein eingefallenen Wangen allein bekun^ den das hohe Alter des erhabenen Mannes. Das lange, zarte Haupt- und Barthaar umrieselt das geheimniserfüllte Gesicht. Leonardo, der immer Forschende, vergüch das Haar selbst mit „Wasserlocken“ und hat diese Aehnlichkeit wohl an seinem eigenen Haar entdeckt. Ohne Bart ist das Gesicht des Geheimnisvollen unvorstellbar, denn wie nach Rätseltiefen tastende Fühler scheinen seine Haare Unerforschliches zu spüren.

Wir wissen, daß Leonardo seine beiden Hände zur Bewußtheit erweckte; in Spiegelschrift schrieb er fast alle seine Traktate, und seine linke zeichnete nicht weniger sicher als seine rechte Hand. Durch die Wachheit seiner linken Hand belebte er seine rechte Gehirnhemisphäre und steigerte (wie uns Carl Ludwig Schleich belehrt) seine von hier wirkenden Phantasien und Ideen. Die wache Bewußtheit dieses Genies zeugte in ihm das Vermögen, im Betrachten jeder Erscheinung der Außenwelt Rätselfragen der Natur zu beantworten. Vielleicht sehen wir seine wissenden Hände auf einer Zeichnung Michelangelos, die das Britische Museum aufbewahrt, denn sie wird heute von einigen Forschern als Bildnis Leonardos angesehen. Auf ihr schreitet ein hoheitsvoller, in einen wallenden Mantel gekleideter Mann nach rechts in den Raum; er ist in scharfer Seitensicht dargestellt. Sein Kopf ist mit einer helmähnlichen Mütze bedeckt, und das Gesicht entspricht der Frontaldarstellung der Turiner Zeichnung derart, daß des Mannes Erscheinung als die Leonardos glaubhaft wird. In lebendigen, langfingrigen Händen hält er einen runden Körper, den manche als Totenschädel auffassen, obwohl er eher ein symbolischer Polyeder sein dürfte. Der Dargestellte ist von solch magischem Fluid umwoben, daß ihn eine Zone der Unnahbarkeit zu umgeben scheint. Diese haben wohl alle seine Zeitgenossen gespürt, denn ihre Berichte sind darin einig, daß sein Wesen mit übernatürlichen Kräften geladen war. Vasari rühmt, ^daß sich ein überschwengliches und übernatürliches Geschenk Schönheit, Liebenswürdigkeit und Künstgeschick in ihm. herrlich vereinigten und jede seiner Handlungen göttlich erschien. Seine Allbegabung bestaunten seine Zeitgenossen als ein Wunder. Unglaubhafte Vielfalt von Gaben und Fähigkeiten war in ihm vereinigt: als Maler, Architekt und Bildhauer schuf er gleich Vollendetes wie als Baumeister von Befestigungen und Erfinder neuen Kriegsgerätes; er war Mathematiker, Physiker und Anatom, erfand Flugapparate und Unterseeboote, war Philosoph, 'Dichter und Komponist, ja, gerade als letzterer und als Meister seines selbst erfundenen Saiteninstruments wurde er vom Herzog Ludovico Sforza nach Mailand berufen. Obwohl also dieser universelle Meister nur manchmal malte, so fand seine Kunst bisher nie gesehene Formen und stellte alle Naturdinge in ein sie sanft umschwebendes Licht, Jedes von ihm gestaltete Ding war wie aus Schöpfungsweisheit geformt, denn künstlerisches Gestalten war für Leonardo Erkenntnis. Immer befrag er jede Erscheinung um ihren Sinn. Er beobachtete mit nüchterner Unerbittlichkeit als wissenschaftlicher Geist, entdeckte vorher Unerkanntes und machte das also Gefundene gestaltend sichtbar. War ihm eine Aufgabe gestellt, befriedigte ihn nur ihre tiefste Erfassung. Als Erster und bisher Einziger schuf er das letzte Abendmahl Christi mit Seinen Jüngern als irdische Entsprechung kosmischen Vollzuges dergestalt, daß er die Zwölfzahl der Aposrel in Dreiergruppen teilte und so den Trigonen Feuer, Wasser, Luft und Erde und den zu ihnen gehörigen Tierkreiskräften Sichtbarkeit verlieh.

Es bleibt rätselhaft, daß in der Phantasie und im Seelenberetche eines Menschen rlie höchsten Aufbaukräfte mit denen der Zerstörung schaffend wirksam sein konnten. Wer die unglaubliche Erfindungsfülle von Kriegsgeräten, die Leonardo zeichnete und beschrieb, und ihr Vorwegnehmen späterer Vernichtungswaffen sich unvoreingenommen vergegenwärtigt, kann unmöglich abstreiten, daß aus seiner Phantasie die Zerstörangsidee des mechanischen Vernichtungskrieges in die ihn erleidende Zukunft geworfen wurde. Nur wenige seiner Zeitgenossen wußten von seiner Zerstörungsphantasie, denn von den 120 von ihm in Spiegelschrift geschriebenen Büchern wurde damals fast keines aus seiner strengen Verwahrung hervorgeholr,

Ist das Paradoxon solcher Spannung von schöpferischem Aufbau und Zerstörung im Gesichte Leonardos auffindbar? Der Phvslo-gnom, der sich immer bemühen muß, Vorgewußtes nicht in die Erscheinung hineinzudeuten, wird, sich nochmals in seine Züge vertiefend, sagen müssen: ja! Jenseits von Gut und Böse ist die Ausströmung dieses Magierantlitzes. Mit elementarer Forscher wucht mußte Leonardo entdecken und erfinden, Entdecktes und Erfundenes beurkunden, zugleich aber eine Welt neuen Schauens und neuer Schönheit schaffen. Die ungeheure Last so widerspruchsvollen Auftrages grub in sein Gesicht jenen Leidenszug, der es uns menschlich nähert. Unserem Sichnähern aber gebietet eine Kälte Distanz, so daß uns der schöpferische Mann als ein übermenschliches Wesen fernbleiben muß. Die Entdeckersucht und Erkenntnisunerbittlichkeit schaut uns -aus seinen Augen so alles Unsere enthüllend an, daß wir begreifen, warum- sein Mund in so herbem Schweigen verschlossen blieb. Daß Leonardo die Souveränität seines wachen Verstandes auch in die Sphären seiner Gefühle hineintrug, beweist seine Aussage: „Wahrlich, große Liebe entspringt aus großer Erkenntnis des geliebten Gegenstandes, und wenn du diesen wenig kennst, wirst du ihn wenig oder gar nicht lieben können.“ — Sein in höchste Wachheit gesteigertes Wesen und sein Wissen subtiler Geheimnisse der Welt bebürdete ihn mit jener Last der Einsamkeit, die alle, auch die ihm anscheinend Nahen, immer fühlten.

Dies ist gewiß: wenn der Mann, dessen Gesicht mich aus der Turiner Zeichnung anschaut, jetzt als Lebender vor mir stünde, würde ich vom Gefühle scheuer Ehrfurcht erfüllt sein und nicht wagen, ihn anzusprechen.

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