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Nicht hebesrahig bis zum Lebensende?

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Wenn Psychologen ihre Einsichten zum besten geben, klingt manches wie ein endgültiges Urteil über die Lebenschancen der Menschen. Zu Unrecht ...

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Wenn Psychologen ihre Einsichten zum besten geben, klingt manches wie ein endgültiges Urteil über die Lebenschancen der Menschen. Zu Unrecht ...

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Wenn Psychologen über die Erfahrungen des Kindes im Leib der Mutter und über die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind referieren, kann ein psycholo-gie-beflissener Laie, wie ich es bin, mitunter schockierend idealistische Auffassungen zu hören bekommen. „Ein Kind, das nicht geliebt worden ist, wird als Erwachsener nicht lieben können und bis ans Lebensende nicht liebesfähig sein.” So der Vortragende, wobei zur Liebe, die das Kind unbedingt braucht, um ein liebesfähiger Mensch zu werden, unter anderem gehörte, daß sich das Kind von Anfang an, schon im Körper der Mutter, geliebt und angenommen fühlt, daß es vor und nach der Geburt Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit erlebt, keine Angst haben muß, die Liebe der Mutter zu verlieren, keinen Liebesentzug, keine Erschütterung seines Zutrauens erlebt.

Die Botschaft richtet sich an Erwachsene, die in der Regel keine so ungetrübte Kindheit erleben konnten, daß ihr Werden in der Mutter und ihre ersten Lebensjahre ohne irgendwelche Erschütterungen, Ängste, Gefährdungen verlaufen wären, und soll wahrscheinlich diese Erwachsenen zu größtmöglichen Liebesbemühungen auffordern, oder wie sonst wäre die fatale Prognose „wird bis an sein Lebensende nicht liebesfähig sein” zu verstehen?

Die hohen Auffassungen der Kinderpsychologie in Ehren, die Erkenntnisse und Einsichten vor allem, in unserer Gesellschaft haben psychologisches Wissen in den letzten Jahrzehnten viel verändert, zum Besseren hin, aber schon bei unseren übernächsten Nachbarn in den Kriegsgebieten, wachsen seit Jahren Kinder in Ängsten und Schrecken heran, werden Kinder von verzweifelten, um ihr Leben zitternden Frauen ausgetragen, geboren, in extremen Mangelsituationen unzulänglich versorgt, von nervösen, erschöpften, um Angehörige trauernden Müttern notdürftig durchgefüttert, wo es an wirklich Zuträglichen mangelt, von Luxusgütern wie „Geborgenheit, Zuversicht” ganz zu schweigen. Sie alle wären, in der erwähnten hohen Auffassung des Psychologen, dazu degradiert, lebenslang „nicht liebesfähig” zu sein.

Natürlich sprechen Psychologen so anspruchsvoll nur zu Menschen „vom Fach” und psychologie-beflissene Laien, die nachts noch Vorträge hören wollen, weitab von Kriegsflüchtlingen, trotzdem auch so, unvermeidlich, zu Hörern, die - trotz eines halben Jahrhunderts Frieden - mit der eigenen Kindheit, oft auch mit der verflossenen Kindheit ihrer Kinder einen nicht endenwollenden Jammer haben.

Wieviele Eltern bei uns an und in der Beziehung zu ihren Eltern oder zu. einem Elternteil leiden, wird niemand so genau sagen können. Nicht alle solcherart Leidenden gehen in Therapie, viele bemühen sich ohne die Hilfe von Spezialisten: um bessere Selbstbeherrschung, um mehr Geduld mit dem alternden Menschen, um innere Distanz, ums Loslassenkönnen.

Manche der angeblich nicht Liebesfähigen leiden da sehr ausdauernd weiter und lechzen danach, mit den alten, aus der Kindheit noch offenen Bechnungen endlich zu Bande zukommen. Immer wieder muß einer/eine, der/die das Pech hatte, als Kind Verständnislosigkeit ertragen zu müssen, spät und ernüchtert zur Kenntnis nehmen, daß der Vater, die Mutter so unsensibel- verständnislos geblieben sind, wie sie am Anfang schon waren, und eine Annäherung nur zu den Bedingungen möglich ist, die der Ältere stellt.

„Nicht liebesfähig” sagt der unbarmherzig-idealistische Psychologe dazu, „der liebesfähige Mensch kann verstehen, vergeben, kann den anderen er-selbst-sein-lassen, kann loslassen, raumgeben, der liebesfähige Mensch bleibt nicht an der eigenen Kindheit, an frühen Verletzungen und Entbehrungen kleben.”

Wer aus Glaubenszusammenhängen einmal erfahren, erfaßt, sich zu eigen gemacht hat, daß „Lieben” in verschiedenen Formen und Intensitäten, aber unabdingbar, zum Leben des glaubenden Menschen gehören soll, wird mit der harschen Diagnose kein gutes Auskommen finden.

Bei uns ist seit 50 Jahren Frieden, dennoch haben viele Weltkriegs-Überlebende immer noch unter dem früh Erlebten zu leiden und in sich selbst an Kriegs-Folgen zu tragen, zu lernen, zu arbeiten, ohne die früh erlittenen Entbehrungen jemals völlig auszugleichen, aufzuheben, oder gar problematische Grundzüge der eigenen Persönlichkeit von Grund auf ändern zu können. Egal, was ein solches Kriegs-Kind als Erwachsener für andere und zusammen mit anderen tut, erlebt, empfindet, erleidet, erreicht, es wäre alles nicht Liebe und könnte nicht Liebe gewesen sein. Auch die Mutter träfe der Vorwurf, sie hätte, zwar scheußlicher Umstände halber, unverschuldet, aber eben doch persönlich, sie selbst, als Mutter, ihr Kind zu wenig oder nicht richtig oder gar nicht geliebt. Als würden Angst, Verzweiflung, Trauer, Ratlosigkeit einer Mutter ausschließlich, daß sie ihr Kind zugleich liebt und ein liebesfähiger Mensch ist. Woran liegts, daß wir hilflos, sysiphus-ähnlich uns zu den hohen Anforderungen hinaufbemühen, ohne - bei gleichbleibender Selbstkritik und Aufrichtigkeit -jemals am Erfolg „erreicht, endlich erreicht”! uns freuen zu können?

Zum Alltagsbewußtsein religiöser Menschen gehört neben einer Vorstellung von der großen, vollkommenen, radikalen Liebe die heimliche Gewißheit, auch mit geringeren und mangelhaften Handlungen, Empfindungen, Bindungserfahrungen das Wort „Liebe” assoziieren zu dürfen, weil anders dem traurigen Lebensbilanz-Ergebnis „hast nicht geliebt, gar nicht, überhaupt nicht” kaum zu entkommen wäre.

Woran liegts? Wirklich nur an der unvermeidbaren Unvollkommen-heit? An schicksalhaft verhängter Liebesunfähigkeit? Oder auch an den Po-stulaten idealistischer Psychologen, die für Liebe und Liebesfähigkeit das höchste olympische Stockerl reserviert haben, auf das nur ganz wenige Menschen gelangen?

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