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Lenin, jenseits der Legende

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Wohl kaum ein anderer aus Lenins engster Umgehung war so geeignet wie Leo Trotzki, ein Buch über den jungen Lenin zu schreiben.

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Wohl kaum ein anderer aus Lenins engster Umgehung war so geeignet wie Leo Trotzki, ein Buch über den jungen Lenin zu schreiben.

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Begeisterung war es also, die Lenin bei Trotzki hervorrief, und wer Trotzki kannte, der weiß, welch außerordentliches Ereignis dies bedeutete. Denn Trotzki „zeichnet sich“, schrieb Lenin am 24. Dezember 1922 an das Zentralkommitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, „nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mann, der ein Ubermaß an Selbstbewußtsein hat“.

In diesem Brief, der bis 1956 verheimlicht wurde und als „Lenins Testament“ bekannt ist, heißt es auch: „Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig Gebrauch zu machen.“ Und als Ergänzung des Briefes schrieb Lenin am 4. Jänner 1923 nochmals an das ZK und forderte dieses auf, „sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte“. Nun, Stalin wurde nicht abgelöst, sondern konzentrierte nach Lenins Tod am 21. Jänner 1924 alle Macht auf sich. Trotzki wurde aus der Partei ausgeschlossen, dann, im Jahre 1929, des Landes verwiesen und 1940 in Mexiko ermordet. Der bedeutendste Mann der russischen Revolution neben Lenin, Leo Trotzki, dessen Verdienste um das Zustandekommen und den Erhalt des Sowjetstaates denen Lenins kaum nachstehen, wurde in der Sowjetunion verteufelt. Auch nach der Zertrümmerung des Stalin-Kults am XX. Parteitag der Sowjetischen KP kam es zu keiner Rehabilitierung. *

Wer allerdings Trotzkis Bücher liest, der versteht, warum der offizielle Kurs in Moskau auch heute noch nichts von dem großen Antipoden Stalins wissen will. Trotzki ist ein zu selbständiger Denker, wie auch sein Buch „Der junge Lenin“ beweist, das zum erstenmal in deutscher Sprache erscheint. Dieses späte Datum der deutschen Übersetzung kann allein schon als politisches Unikum bezeichnet werden. In diesem Buch wird in einer ungemein fesselnden Darstellung jener Teil des Lenin-Mythos zertrümmert, der besagt, daß Lenin in einem revolutionären Klima aufgewachsen und vom Vater in revolutionärem Geist erzogen worden wäre, und daß schon den Studenten Lenin revolutionäre Ideen erfüllt hätten. Für Trotzki Ist Lenin gerade so, wie er sich wirklich entwickelt hat, ein erregendes Phänomen. Er braucht die Geschichte nicht zu fälschen, um einen „besseren Lenin“ hervorzubringen. Lenins Vater, Ilja Nikolaje-witsch Uljanow, stammte aus einer Astrachaner Kleinbürgerfamilie und war Lehrer in Mathematik und Physik. Er kam 1869 als Inspektor der Volksschulen im Sibirsker Gouvernement in dessen Hauptstadt Sibirsk. Schon 1874 wurde er Direktor der Volksschulen, unter dessen Leitung mehrere Inspektoren standen, erhielt den Orden des heiligen Wladimir und den Rang eines Wirklichen Staatsrates, der ihm den erblichen Adel brachte. Ilja Nikolajewitsch zeichnete sich durch Einfachheit, Abscheu vor jeder Großtuerei, Eifer für die Sache, Wahrheitsliebe, Aufgeschlossenheit und Pflichtbewußtsein aus. Obwohl er Mathematiker und Physiker war, „bewahrte er sich“, wie Trotzki staunend fest-

stellt, „in voller Unversehrtheit den orthodoxen Glauben des Astrachaner Kleinbürgers“. Er war ein „praktizierender Christ“, der „fastete und kommunizierte“ und der „aus innerer Überzeugung zum Abendgottesdienst“ ging. Er besaß also eine Menge guter und als praktizierender Christ in den Augen eines Kommunisten auch schlechte Eigenschaften, nur ein Revolutionär war er gar nicht.

Dafür gab er seinen ■ Kindern (es waren ihrer sechs, ein siebentes starb bald nach der Geburt) ein schönes Heim mit einer heiteren und geistig kultivierten Atmosphäre. Daran hatte allerdings auch die Mutter, Maria Alexandrowna, einen besonderen Anteil. Trotzki nennt sie das „Vorbild einer Mutter“ und eine „Mehrerin und Hüterin des Geschlechts“. Ihre Liebe war „ohne Verwöhnung und Zänkerei“. Sie war die Tochter eines Arztes und Gutsbesitzers im Kasaner Gouvernement, Lutheranerin, aber „nicht fromm“, obschon sie „in der Not betete und sich an religiösen Zuspruch klammerte“.

*

Das älteste Kind der Uljanows war Alexander, von der Familie Sascha genannt. Er war ein ernster Charakter und in Lenins jungen Jahren dessen Vorbild. Lenin ahmte ihn nach und wollte alles „wie Sascha“ machen. Lenin wurde am 10. April 1870 geboren und auf den Namen Wladimir getauft. Er war kein Wunderkind, ja, er war am Anfang sogar etwas zurückgeblieben. Er lernte, wie seine Schwester Anna, verheiratete Jelisarowa berichtet, erst spät gehen, fast gleichzeitig mit der eineinhalb Jahre jüngeren Schwester Olga. Wladimir fiel oft auf den Kopf und brüllte ungewöhnlich laut. Auffallend waren sein Jähzorn, seine Zerstörungswut gegen Spielsachen und später seine geringe Körpergröße. Die Familie erfand für ihn den: Spitznamen Kubyschka (Fäß-chen).

In den Adern Lenins floß, so stellt Trotzki fest, „das Blut von mindestens drei Rassen: großrussisches, deutsches und tatarisches“. Sein Gesicht war von grauer Farbe. Er hatte vorspringende Backenknochen, grobe und gleichzeitig verschwommene Gesichtszüge. Das Haar trug eine rötliche Farbe. Der Schnitt der Augen war halbmongolisch, doch die kleinen braunen Augen leuchteten. Wladimir lernte rasch und gut. Er war der beste Schüler des Gymnasiums und erhielt die Goldene Medaille für das beste Zeugnis bei der Reifeprüfung.

Der Vater hatte die Kinder im religiösen Sinn erzogen, doch als er, 55jährig, im Jahre 1886 starb, begann Wladimir an der Religion zu zweifeln. Seine „offiziellen“ Biographen behaupten, Lenin habe mit 15 Jahren das Kreuz, das er trug, heruntergerissen, mit Füßen getreten und auf den Mist geworfen. Trotzki bezeichnet diese Darstellung als eine Legende und weist darauf hin, daß Lenin selbst auf den Parteifragebogen zur Frage „Wann haben Sie aufgehört, religiös zu sein?“ die Antwort schrieb: „Mit 16 Jahren.“ 16 Jahre nämlich zählte Lenin, als sein Vater starb, und der Tod des Vaters war der Anstoß.

*

Noch tiefer als der Tod des Vaters traf Wladimir, der sich gerade auf die Reifeprüfung vorbereitete, die Hinrichtung seines Bruders Alexander. Dieser studierte an der Uni-

versität Petersburg Chemie. Nach dem Tod seines Vaters trat er einer Verschwörergruppe bei, die Zar Alexander III. ermorden wollte. Am 1. März 1887 wurden sieben Studenten auf dem Newskiprospekt angehalten. Unter ihnen befand sich auch Alexander. Da man bei den Verhafteten Sprengstoffkörper fand, die Alexander hergestellt hatte, wurde den Studenten der Prozeß gemacht. Alexander erwies sich als

in Alakajewska im Samarer Gouvernement. „Die Mutter wollte“, sagte Lenin, „daß ich mich auf dem Lande mit der Wirtschaft beschäftige. Ich habe angefangen, aber ich habe gesehen, es geht nicht: die Beziehungen zu den Muschiks werden abnormal.“ Aus diesem Grund verzichtete die Mutter auf eigene Bewirtschaftung und verpachtete das Land, war also ein Expropriateur bäuerlicher Arbeit. Das Anwesen diente der Familie vier oder fünf Monate im Jahr als Sommerhaus. Es harte einen großen Garten, einen Teich zum Baden und eine Jagd.

Im Spätherbst und Winter übersiedelten die Ulganows nach Samara, wo sich Lenin als Externist auf sein

Jusexamen vorbereitete. Er hatte nach vielen Interventionen dazu die Erlaubnis erhalten. Am 15. November 1891 erhielt er von der Petersburger kaiserlichen Universität das Diplom Ersten Grades. Unter 134 Studenten und Externisten war er der beste. Er bewältigte den Stoff, der vier Jahre Studium umfaßt, in eineinhalb Jahren. *

Lenin trat nun in die Kanzlei des Rechtsanwaltes Chardin in Samara ein. Er verteidigte in zehn Strafprozessen und -verlor alle. Immerhin zeigten sie ihm die Mangel des rus-

sischen Justizwesens auf. Die 1891 im Samara-Gouvernement ausbrechende Hungersnot bestärkte Lenin in seiner These, daß nicht durch Hilfskomitees und Hilfsmaßnahmen entscheidende Änderungen herbeigeführt werden können, sondern einzig und allein durch eine Revolution und eine Reform von Grund auf. „Aus dem theoretischen Marxisten Wladimir Uljanow wurde endgültig ein revolutionärer Sozialdemokrat.“

Tm Jahre 1893 geht Lenin nach Petersburg, wo er „sein politisches Genie“ entfaltet. Hier endet auch das Buch Trotzkis. Es ist ein faszinierendes Buch, das die organische Entwicklung einer der größten Gestalten der Weltgeschichte aufzeigt und sich auch mit den russischen Verhältnissen von 1870 bis 1903 befaßt. Trotzki ist ein glänzender Stilist, ein guter Erzähler und ein unbestechlicher Beobachter. Einige Sätze sind für die Kenntnis des russischen Kommunismus geradezu unentbehrlich: „Mögen die strengen Moralisten, diese Lügner von Beruf, noch so sehr herumphilosophieren, die Lüge ist ein Ausdruck der sozialen Gegensätze — und mitunter auch eine Waffe im Kampf mit ihnen. Durch individuelles moralisches Bemühen kann man nicht herausspringen aus der Verstrickung der sozialen Lüge.“ Und über Lenin sagt Trotzki: „Die Fähigkeit, die Leidenschaft zu disziplinieren, war eine seiner höchsten, und sie war es, die ihn zum Führer der anderen machte... Der Mensch ist ihm nicht Selbstzweck, sondern Werkzeug. Sein Verhalten zu ein und demselben Menschen änderte sich radikal, je nachdem, ob er im gegebenen Augenblick für oder gegen ihn war.“ Der Mensch als Werkzeug der Partei — das ist letztlich die Wurzel des Inhumanen im praktischen Kommunismus.

„DER JUNGE LENIN.“ Von Leo Trotzki. Aus dem russischen Originalmanuskript übertragen von Walter Fischer, mit einem Vorwort des Übersetzers. Verlag Molden... Wien-München-Züxich 1369, 271 Seiten, S 118.—.

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