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Licht, Schatten, Zwielicht

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Damit sind wir bei einem Kapitel angelangt, das zu den einander widersprechendsten Urteilen geführt hat. Das Los der Kirche, des Klerus und der Gläubigen, das der Wissenschaft und der Gelehrten, der Literatur und der Schriftsteller, der Künste und ihrer Jünger, die Möglichkeiten, seine Ansichten offen zu äußern, in Rede, Schrift oder durch den Druck, und die Folgen, die man auf sich zieht, wenn man der amtlichen marxistischen Doktrin den Beifall verweigert oder gar sie bekämpft: Alles das wird, den Willen und die Fähigkeit zur unbefangenen Meinung vorausgesetzt, je nach den Vergleichspunkten voneinander verschieden betrachtet werden. Im Vergleicn~^2H westlich-demokratischen Staaten erscheint die polnische Gedankenfreiheit arg beschnitten; neben den Zuständen in der Sowjetunion oder .noch mehr in der Tschechow slowfc(äyiundi in der i|8fe5WScbweige in China'oder Albanien, ist sife sehr weit gespannt.

Wissenschaft, Literatur und Künste sind nur zum kleineren Teil vom Marxismus erfaßt. An den Hochschulen sind insbesondere die humanistischen Fächer in der Mehrzahl mit Nichtkommunisten, vielfach mit positiven Katholiken, besetzt. Für die Gesinnung der Studentenschaft mag folgendes Ergebnis einer Enquete unter den Hörern der Warschauer Technischen Hochschule zeugen, wobei man daran denke, daß der Zuzug von Sprossen der Arbeiterklasse und der ärmeren Bauernschaft mit allen Mitteln durch Staat und Partei gefördert wird: entschieden antimarxistisch 27,5 Prozent, gemäßigt antimarxistisch 31 Prozent, ohne Meinung (Vorsichtige, die bestimmt, nicht promarxistisch •ind) 22 Prozent, gemäßigt promarxistisch 16 Prozent und überzeugte Marxisten zweieinhalb Prozent. Die katholische Sittenlehre wird von neun Prozent als einzig gute, von 31 Prozent als in jeder Hinsicht gut — doch gäbe es auch in anderen Moralen Gutes —, von 43 Prozent als überwiegend richtig bezeichnet. 15 Prozent finden in ihr manches gut, 4,5 Prozent lehnen sie ab. Es wird wohl nur wenige, auf dem Papier katholische Länder in der freien Welt geben, wo eine Rundfrage unter Studenten einer Technik derartige erfreuliche Resultate brächte. Es macht jedenfalls der geistigen Situation Polens alle Ehre, daß diese Zahlen in einer dem Regime verpflichteten Zeitschrift abgedruckt wurden.

Fast könnte man meinen, in Polen sei alles „in Butter“. Die Gerechtigkeit gebietet uns, nun die Kehrseite der Medaille zu zeigen. Wenn der Wiederaufbau und der Neuaufbau sehr anerkennenswerte Leistungen vollbracht haben, so sind diese vornehmlich den Amtssitzen der Behörden und der Partei, den Denkmalen der Architektur, den Schulen, Fabriken, Kulturheimen zugute gekommen. Die zum Teil gar schönen Wohnbauten, unter denen sich die Warschauer, die das urbani-stisohe Talent des Architekten Hrynie-wiecki widerspiegeln, besonders auszeichnen, leiden an mehreren dem System innewohnenden Übelständen. Sie sind zumeist überstürzt und aus nicht hochwertigem Material hergestellt. Sie bemessen den Wohnraum aufs kärglichste. Sie mengen Hausgenossen, die gar nicht zueinander passen, bunt und störend durcheinander. Und vor allem: die mit der doppelten Hypothek der Bevorzugung der Parteimitglieder und der unausrottbaren Korruption behaftete bürokratische Wohnungsbewirtschaftung verhängt über Unbehauste Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zermürbenden Wartens auf ein, ach so bescheidenes Heim. Allmählich hat man sich in Polen schon daran gewöhnt, mit den aufgezwungenen widerwärtigsten Schicksalsgefährten zusammenzuleben, bei gemeinsamer Küche, gemeinsamem Badezimmer (wenn das überhaupt da ist und es nicht., seinem., Zweck- entfremdet als WasohiEOgM oder'. KartofMlnger verwendet wird). Die Zimmer sind in alten Häusern in unbeschreiblichem Zustand, bar jeder Hygiene, geschweige des einfachsten Komforts, im neuen winzig klein, niedrig. Sehr im argen liegt die Fremdenindustrie. Man möchte in Polen gerne viele Gäste aus dem Ausland bewirten, als Devisenbringer und auch sonst. Aber Hotels und Restaurants verharren — ein paar Luxusherbergen in Warschau, an der Küste, in Zakopane, allenfalls noch einige Hotels in Breslau, Posen und Krakau ausgenommen — auf einem kläglichen Niveau. Den fremden Besucher ärgert gar bald alles: die schlecht funktionierende Warmwasser-leitung, die nachlässige Bedienung, die Schwierigkeit, in den Gaststätten einen Platz zu bekommen, das regelmäßig kalte Essen. Dabei wäre die Küche gut, schmackhaft, reichlich und, an internationalen Maßstäben gemessen, wohlfeil.

Alle öffentlichen Verkehrsmittel sind überfüllt. Autos sind noch immer Mangelware und zugleich — wenn man sie besitzt — das Anzeichen der Zugehörigkeit zur bevorzugten neuen Oberschicht oder des heimlichen, unheimlichen und nicht ganz mit der sozialistischen Legalität zu vereinbarenden Reichtums. Dazwischen erfreuen sich noch Ärzte, Wirtschaftsführer, sogar Professoren, dann Schriftsteller („unsere Lords“), Künstler, ein paar Musterarbeiter und .. . Bischöfe, Prälaten des gesetzlich geschützten Eigentums an Kraftfahrzeugen. Doch die Gesamtzahl dieser Auserkorenen beträgt um 100.000, also ein Privatwagen auf 300 Einwohner! Dafür rattern mehr als 900.000 Motorräder über Polens Straßen. Immerhin ein Fortschritt und der Stolz ihrer Besitzer.

Wagen wir nun auch bei der Kritik den Sprung in den geistigen Bereich! Polens Hochschulen werden von 128.000 Studenten bevölkert, davon 30.000 Hörern der Universitäten, 23.500 der medizinischen Akademien, die, sehr zum Schaden des allgemeinen Bildungsniveaus der Ärzte, in Polen von den Universitäten abgetrennt sind, 46.300 an den Techniken. Imponierende Zahlen! Doch die Qualität hält mit der Quantität keineswegs Schritt. Der polnische Student, zwar wissens-hiSjngrt|*dnd',g^crft*f,idclFtfftfediildig, ,e*nenhalbwegs .einträglichen-Beruf zu ergreifen;' beischränkt sich in noch stärkerem Grade auf den Erwerb der bei den Prüfungen geforderten Fachkenntnisse als sein Kollege im Westen.

Die Kultausübung der Kirchen ist frei und unbehindert; persönliche Duldsamkeit zwischen Gläubigen und Ungläubigen ist die Regel. Doch der Episkopat muß einen zähen Kampf führen, um wenigstens einen Teil der ihm 1956 und 1957 zugesicherten Rechte, zumal auf dem Gebiet des Religionsunterrichts, zu verteidigen. Schikanen sind, in absonderlichem Gegensatz zur äußerlichen Artigkeit gegenüber Kirchenfürsten, an der Tagesordnung. Die wirtschaftlichen Bedrängnisse der Lubliner Katholischen Universität, der Pfarreien und der Klöster dienen dem Staat als politisches Druckmittel. Über die Bestrebungen des Regimes, durch „fortschrittliche“ Priester und durch die sogenannte „Pax“-Bewe-gung innerhalb des polnischem Katholizismus ein Gegengewicht zum Episkopat zu schaffen, ist oft genug berichtet worden. Sehr schmerzlich werden die offiziell geförderte atheistische Propaganda, die Kampagne für „bewußte Mutterschaft“ (alias Schwangerschaftsunterbrechung) und die An-schwärzung der patriotischen Gesinnung der Hierarchie wie des „rückschrittlichen“ Klerus empfunden.

Die Freiheit des literarischen und des künstlerischen Schaffens wird durch die einseitige Bevorzugung der „gutgesinnten“ kommunistischen oder mindestens religionsfeindlichen und antiwestlichen Autoren und Künstler beeinträchtigt. Auch die offene Zensur iist zwar gemildert worden, doch tätig, ja mitunter kleinlich geblieben. Was alles, so müssen wir — die einschränkende Kritik an den Zuständen nochmals einschränkend — betonen, nichts daran hindert, daß im Warschau ein ganz anderer Geist der Denkfrei-heit, der Toleranz, ein ganz anderer Lebensstil herrschen als irgendwo im Osten. Kein Wunder, daß in einer der zahllosen Enqueten 85 Prozent der befragten Studenten, aller Armut und allen Mängeln zum Trotz, erklärten, mit ihrem Dasein zufrieden zu sein, und nur 13 K Prozent eine negative Haltung bezeigten. Den westlichen Beobachtern mag dies wundernehmen. Als Tatsache bleibt es dennoch bestehen.

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