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Lichter und Schatten vom österreichischen Sonntag

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Die Nacht vom Samstag zum Sonntag, zum österreichischen Sonntag, ist sternenlos und voll Sturm und Regen.

In den Wolkenfetzen reiten in Wehr und Waffen zwei Jahrtausende österreichische Besatzung: die zehnte römische Legion, Odoaker und Attila und die Madjaren, Ottokar und Corvinus, Soliman, 1619 die aufständischen Ungarn, 1643 die schwedischen Reiter, 1683 wieder die Türken, 20 Jahre später Räkoczy mit seinen Kuruzzen, sodann Napoleon, dann der Wiener Kongreß, dann, 1866, die Preußen (wenigstens bis Korneuburg), dann, 193 8 bis 1945 ihre Enkel, dann, dann, dann, dann —

Der Sonntagmorgen ist trüb, aber leidlich warm. Die nächtliche Wetterstörungsfront ist abgeflossen, die nächste erst wieder für mittag „angesetzt“. So dürfen die hunderttausend Fahnen und Fähnchen ein p3ar Stunden trocken im Winde knattern. Unter ihrem Schutz und Schirm sind vom frühen Morgen viele tausende Wiener und Gäste aus fern und nah belvederewärts unterwegs. Alle Wege „führen nach Rom“: Straßenbahnen, Autos, Fußgeher. . Alle Menschen gehen in einer Richtung. Das ist selten so in Oesterreich.

Die Einfahrt ins obere Belvedere ist von 8 Uhr an von Menschenmassen belagert, in drei Rängen: auf dem Parkett der ebenen Erde, auf dem Balkon der Baumkronen und auf dem halsbrecherischen „Juchhe“ der Dächer, Dachluken, Dachrinnen und Schornsteine. Im Parkett sehen nur die ersten zwei, drei Reihen. Alles andere ist „Säulensitz“. Aber die Findigen helfen sich mit Spiegeln, Leitern und sogar Stelzen.

Von 10.45 Uhr an fahren, vom gemessenen Jubel der Menschenmenge empfangen, die Autos der Delegationen ein. Reihenfolge: Oesterreich, Rußland, Amerika, England, Frankreich. In staunenswert kurzer Zeit sind dann die Menschenmassen, wie von einer herrischen Faust gepackt, wieder in den unteren Belvederepark verlagert (vor 15, 16 Jahren ging's noch schneller). Dort stehen nun, Schlag 11.30 Uhr, die Zehntausende Kopf an Kopf und sehen auf die Uhr. 11.30 Uhr: Es ist so weit. Hinter den großen Spiegelscheiben knirschen jetzt leise neun goldene Füllfedern und schreiben Geschichte. Ganze vier Minuten dauert das. Und zehn Jahre lang hat das Federfüllen gebraucht! Knapp vor 12 Uhr bricht die Sonne kurz durch — es soll das einzige Mal an diesem Tag sein. Dann übertönen die hellen Glocken von allen Seiten das Summen der Menschenmenge. Ein merkwürdiges Gefühl: Daß jetzt die Glocken im fernsten Bergbauerndorf zusammen mit der großen Pummerin-Schwester in Wien läuten. Um 12.15 Uhr öffnen sich die Balkontüren,gund die „großen Fünf“ — denn heute ist Oesterreich unter den Großen der Welt — mit den vier Botschaftern und dem österreichischen Kanzler neigen sich vor dem. herzlichen Jubel der mit Fähnchen, Hüten und Tüchern winkenden Menge. In der Mitte Außenminister Figl, der unter dem tosenden Beifall der Massen die Urkunde nach allen Seiten hin zeigt; dann wechseln die Großen vom mittleren zum Turm-Balkon, den mittleren Balkon okkupieren die Pressephotographen: es muß ein wunderbares „Objekt“ sein, diese winkende, wogende Masse der Zehntausende bis zum Rennweg.

Und da — am linken Balkon, zur Prinz-Eugen-Straße hin, da geschieht jetzt etwas, was die Menschen restlos ergreift und lachen und weinen macht. Ein herzhafter Griff unseres Außenministers: und die fünf fassen einander an den Händen und schwenken sie immer wieder hoch. Es ist der denkwürdigste Augenblick des österreichischen Tages, eine herzliche, echt österreichische Anregung und, wie sie befolgt wurde, eine menschliche Geste von historischem Charme.

„Um zehn Jahre zu spät', sagt einer mit verhangenem Blick und schaut auf die Menschen, denen viel Leid erspart geblieben wäre.

„Zu spät?“ meint ein anderer, „Zu spät ist es nie“, und schaut über das Häusermeer von Wien, weit, weithin, bis dorthin, wo sich die Türme und Dächer der Stadt in die Unendlichkeit der Ebenen des Ostens verlieren.

Wie sich nur diese Menschenwogen verschieben! Um 13 Uhr säumen schon wieder Zehntausende vom Schwarzenbergplatz über den Karlsplatz bis zum Heldenplatz die Anfahrtstraße zum Ballhausplatz: Dejeuner beim Bundespräsidenten.

Auf den russischen Panzer auf dem Stalinplatz sind Kinder geklettert und haben ahnungslos, mit einer Art Inbrunst, die mächtige Kanone umhalst, deren unergründliches „Stielauge“ sinnend auf die wunderlichen Menschen herabschaut.

„Was tun sie denn jetzt, die Minister?“ fragt ein Fünfjähriger seinen Vater.

„Jetzt tun s' den ganzen Nachmittag und Abend essen“, sagt der Vater genießerisch, und betäubt mit einer Zigarette den knurrenden Magen.

Indem haben sich blauschwarze Wolken herangeschoben, ein kalter Sturm fährt über die Stadt und peitscht ganze Schwaden Regen nieder. Stundenlang. Bis zum Nachmittag. Bis zum Abend. Bis in die Nacht.

Dieser Nachmittag, dieser unvergeßliche, Sturm und Regen trotzende „katholisch-österreichische“ Nachmittag!

Zum zweiten Male binnen kurzer Zeit sieht der Platz vor Oesterreichs Dom eine Kundgebung ungewöhnlicher Art: die Kirche grüßt den Staat. Um 16 Uhr setzen sich von den Rändern der City aus konzentrisch die Kolonnen der Katholischen Jugend in Marsch. Es ist ein friedlicher Marsch, freilich mit allen seinen Fahnen, bunten Mützen und Musikkapellen getroffen, geschlagen, gepeitscht vom Regen. Aber die Leute sind wetterfest.

Im Dom dankt Oesterreichs Kirchenfürst mit tausenden Andächtigen im Tedeum und „Gebet für das Vaterland“ dem Herrgott dafür, daß Oesterreich diesen Tag hat erleben dürfen.

Draußen aber empfängt die Andächtigen in einem Wald von Fahnen und — Schirmen wieder das österreichische Wetter des letzten Jahrzehnts: Sturm und Regen. Es ist unbeschreiblich, wie da Kanzler und Außenminister auf dem Festpodium vor dem Dom in strömenden Güssen zur Jugend sprechen. Es hat nur ein Gegenstück: den unvergeßlichen Abend des letzten Katholikentages, als 60.000 Wetterharte, Unverdrossene unter Blitz und Donner zum Gebet ins Stadion zogen.

Es ist doch nicht möglich, meinten auch gestern wieder Tausende, daß die Kundgebung bei diesem Wetter stattfindet.

Es war möglich. Und vom Knauf der Turmspitze rollt pünktlich die 25 Meter lange Fahne in Rotweißrot, die drei waghalsige Dombau-hütter am Tag zuvor unter Lebensgefahr befestigt hatten, und in ihrem provisorischen Heim holt die Pummerin zur vorgesehenen Stunde abermals zu weithin hörbaren, mächtigen Schlägen aus, von Tausenden geliebt und umworben, bestaunt und bewundert, fast wie bei ihrem unvergeßlichen Einzug. Und der Klöppel zersprang nicht und unser Herz zersprang nicht, obwohl es übervoll von Dank und Freude war an diesem katholisch-österreichischen Nachmittag.

„Mutter“, fragte eine Knirpsin, „wann läutet sie denn wieder, die Pummerin?“

„Bald, bald“, beruhigt die Mutter, „spätestens am Silvestertag — zum Abschied...“ *

Unsichtbar hing in diesen Tagen eine schwarze inmitten der hellen Fahnen.

War eine Frau in Oesterreich, eine einfache Bauersfrau im Tullnerfeld. Ist ihren neun Kindern eine gute Mutter gewesen, in einem Leben voll Arbeit und Entbehrungen, großen Sorgen und kleinen Freuden. Ist auch was worden aus den Kindern, besonders aus dem einen. Aber die Sorgen haben nicht aufgehört: Hat die Mutter zittern müssen um den einen, in den bösen Jahren, die nicht österreichisch waren. Hat sich dann wieder mächtig freuen dürfen, als der eine zu höchsten Würden im Staate stieg. Aber die Sorgen haben nicht aufgehört. Dann aber war's so weit, daß auf das eine ihrer Kinder das Höchste zukam: mit den Großen der Welt das Geschick des Vaterlandes zu beraten. Und in dieser Stunde brach das Herz der Mutter, stark genug, das Schwerste zu tragen — aber zu schwach, das Schönste zu erleben.

Am Mittwoch vergangener Woche, nur einen Tag vor der letzten Einigung über die heikelsten Punkte des zehn Jahre lang umkämpften Staatsvertrages, wurde in Rust, Niederösterreich, Frau Josefa Figl, die Mutter des einstigen Bundeskanzlers und jetzigen Außenministers Oesterreichs, zu Grabe getragen. Bischof, Generalabt und Prälaten, Bundeskanzler, Vizekanzler und Nationalratspräsident, Minister und Staatssekretäre waren dabei, als ein paar Brocken Erde in die Grube der 82jährigen fielen und die Große Mutter Oesterreichs diese kleine, diese gute österreichische Mutter zu sich nahm.

Ist aber nicht die geringste gewesen: die schwarze Fahne, die in diesen Tagen unsichtbar unter den zehntausend hellen gehangen ist.

Am Abend des österreichischen Sonntags sind die Fahnen schon zerschlissen, zerfetzt und zerwaschen. Die „kalte Sophie“, die ungute Nachzüglerin der drei Eismänner, hat sie unbarmherzig gerupft und gezaust. Sie sehen aus wie nach einem tapfer bestandenen, blutig erkauften Sieg auf dem Schlachtfeld ...

Und zwar überall: in Schönbrunn, wo um 19 und 21 Uhr die großen 85 bzw. 1200 zu Bankett und Empfang versammelt sind (das hell erleuchtete Schloß und die wie In Flammen stehende Gloriette leuchten ihnen heim). — und auf der Ringstraße, wo sich ab 20 Uhr zwei Stunden lang unter den Lichtfluten der bestrahlten Brunnen, Bauten und Denkmäler die „Kleinkopferten“ zu einem richtigen Volksfest der Hunderttausend zusammenfinden. Unter Regenschirmen, versteht sich, bis auf die Haut durchnäßt und getragen, geschaukelt, vom genialen Sauhaufen einer phänomenalen Verkehrsmisere, eines erbitterten Ringkampfes (etwa zwischen Schwarzenbergplatz und Karlsplatz oder an der Kreuzung 2er-Linie und Baben-bergerstraße) zwischen Zweibeinigen und Vierrädrigen, in dem, wohl zum ersten und zugleich zum letzten Male in diesem Jahrhundert, die ersteren eindeutig Sieger bleiben. Mit Kind und Kegel. Denn wieviel Kinder waren am Montag verschlafen!

Gnadenlos ist das Wetter. Während am Leuchtbrunnen schlanke Fontänen in Weiß, Rot, Grün, Violett und Orange in den schwarzen Himmel schießen; Karlskirche, Parlament und Rathaus in weißen und gelben lichtfluten sprühen; Musikkapellen im Zwei- und Dreivierteltakt schwelgen, regnet es, regnet es, regnet es. „Es regnet immer am Sonntag.“ Es regnet noch, als um 22 Uhr die Musikkapellen mit der Bundeshymne das Fest beenden. Und es regnet, als die letzten Diplomatenwagen aus Schönbrunn heimfahren.

Vielleicht gehört auch das zum österreichischen Sonntag, daß wir nur ja nicht vergessen, daß hinter — und vor den Festen saure Wochen liegen.

„Du“, sagt spät abends ein ganz kleiner, vom österreichischen Sonntag sehr erschöpfter junger Mann schlaftrunken zu seiner Mutter, ..gehört der Leuchtbrunnen auch noch zu Oesterreich?“

„Ja, Kind, der gehört auch noch zu Oesterreich.“

„Und der Rathausmann und die Stephanskirche und der neue 46er-Wagen?“ „Auch.“

Lange Pause, dann:

„Du, Mutti, ist Oesterreich sehr groß? Und wie groß? Soooo groß?“

„Tja, Kleines, wie man 's nimmt. Ich glaube, das liegt ganz an uns, an dir und an deinem Freund Perger Christian und vielleicht auch noch ein wenig an mir. Weißt du, das ist nämlich so. Wenn du einmal groß sein wirst...“

Aber da künden schon tiefe, ruhige Atemzüge des Kleinen, daß er eingeschlafen ist.

Der österreichische Sonntag ist zu Ende.

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