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Liebe, Gedächtnis, Sprache

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DAS EINHORN. Von Martin Waller. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1966. 489 Seiten. OM 2.-.

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DAS EINHORN. Von Martin Waller. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1966. 489 Seiten. OM 2.-.

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Martin Walsers neuer Roman „Das Einhorn“ ist auf der Bestsellerliste, die „Der Spiegel“ jedesmal mitteilt, innerhalb von drei Wodien vom zehnten aui den ersten Platz gerückt. Der Held ist derselbe wie in Walsers früherem Roman „Halbzeit“ (1960), Anselm Kristlein. Die Schweizer Erotica-Verlegerin Melanie Sugg ist von dem anrüchigen Erfolg dieses Schlüsselromans angetan, so daß sie Anselm auffordert, ein Buch über die Liebe zu schreiben. Und zwar „nichts Erdachtes, etiwas Genaues (öppis Gnaus), nach dem Leben“ (93). Anselm quält sich, von Melanie in einem ruhigen Sommerhaus am Bodensee einquartiert, vergeblich damit ab, einen möglichst photographisch realistischen „Sachroman“ über Liebe zustande zu bringen. Umsonst evoziert er seine intimen Erlebnisse mit einer Barbara aus Düsseldorf, mit einem Mannequin namens Rosa, mit Melanie selbst, ja sogar mit Birga, seiner Gattin. Und als ihn in diesem Sommer die glühende Leidenschaft zu Orüi überfällt, der lang umworbenen und bald wieder verlorenen Geliebten aus Niederländisch-Surinam, da wird ihm endgültig klar, daß er unfähig ist, seinen Auftrag auszuführeru Melanie entläßt ihn aus ihrem Vertrag, zumal sie jetzt von Amerikanern mit einschlägiger Literatur beliefert wird. Indes ist mit dieser nüchternen Inhaltsangabe das eigentliche Anliegen dieses Romans noch kaum berührt. Hier geht es Walser um die Frage, ob die Sprache, das epische Wort, imstande sei, ein vergangenes Erlebnis — wozu sich die Liebe am besten eignen mag — wahrhaft und wirklich zu vergegenwärtigen, gleichsam magisch zu beschwören. Audi er ist mit Anselm „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“; aber er möchte seinem französischen Lehrmeister, „Ach-Du-lieber-Proust“ (60), vordemonstrieren, daß jedes derartige Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist „Man wird schon noch merken, wie verschieden die zwei Systeme sind, das für Erleben und das für Erinnern“ . (477). Erinnerung läßt sich durch kein einziges Wort, durch keine noch so virtuose Sprach- artistik in aktuelles Erleben verwandeln. In der Tat steht Martin Walser eine geradezu stupende Ausdrucksfähigkeit zu Gebote, die manchmal an den „Ulysses“ von James Joyce gemahnt. Friedrich Sieburg hat ihn „ein Genie der deutschen Sprache“ genannt. Es mag sein, daß diese Wortkunst bisweilen ins Skurrile, Manierierte ausartet, zum Beispiel! wenn der typische Jargon von Diskussionsrednern ins Uferlose variiert wird (1231). Doch sind das Ausnahmen! Anselm, der Held des Romans, hat denselben Namen wie jener große Intellektuelle unter den Kirchenlehrern, der Erzbischof von Canterbury, dessen theologisches Programm lautete: credo, ut intelligam; ich glaube, um zu verstehen! Walsers Roman ist ein intellektuell-poeitisches Experiment, die Leistungsfähigkeit der Erinnerung, des Gedächtnisses zu erproben. Der eigentliche Partner, meist im Hintergrund, mit dem er sich auseinandersetzt, ist der heilige Augustinus, dessen bedeutendster Schüler der heilige Anselm war. „Ich bin mein Erinnern“: dieses Augusteische Wort steht als Motto am Beginn des Buches. Im vierten „Anlaß, über mein Erinnerungsvermögen verwundert zu sein“ (im ganzen

Roman gibt es fünf derartige Intermezzi!), verwahrt sich Walser- Anselm scharf gegen jene berühmte Gedächtnistheorie Augustinus’ aus den „Confessiones“: „Bilder nennt er das. Von mir aus. Aber daß er behauptet (wie alle), er .erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden . Ach, Augustin, unter uns, das ist doch nicht drin bei uns... Auch ich, o Augustine, ziehe in der Erinnnerung den Honig dem Most vor, mich beider erinnernd, unterscheide ich sie, aber ich habe wirklich nichts davon, denn schmecken tut der Erinnerungshonig so wenig wie der Erinnerungsmost“ (266). Diese Grenze und Ohnmacht des Gedächtnisses ist zugleich die Grenze und Ohnmacht der Sprache, der Jungfräulichkeit, der Erwartung und der vergeblichen Sehnsucht (41; 488).

So kann denn der zweite Hauptteil des Romans, die Orli-Episode,

nichts mehr sein als die elegische „Vergangenheitsform für einen Sommer“ (225), weil (es keine lebenerweckenden „Wörter für Liebe“ (91) gibt und auch nicht für sonst irgend etwas. Daran vermögen sogar „Antiwörter“ nichts zu ändern, nach denen Anselm verzweifelt sucht (476). Das ist nur so beim allwissenden und allgegenwärtigen „Gott des 138. Psalms“, der durch Sein Wort alles erschaffen hat, unter dessen Blicken sich Anselm seinen „Sachroman“ zu schreiben bemüht (93; 194). Man hat beinahe den Verdacht, seinen Namen „Krisitlein“ als Deminutivum von „Christ“ zu deuten? Jedenfalls ist es so, daß Walser auch die letzten, nämlich theologischen Aspekte seines „epischen Problems“ durchaus im Auge behält.

Martin Walser stößt also in diesem Roman sowohl inhaltlich als auch formal bis zu den äußersten Grenzen und Möglichkeiten der Sprache vor. Der Rezensent gesteht, daß ihn gerade dieses Äußerste unwiderstehlich fasziniert, vielleicht sogar etwas geblendet hat...

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