Liebe in Zeiten des Krieges

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Najem Wali gelingt mit "Jussifs Gesichter" ein komplexes Mosaik über Krieg, Identitäten, Liebe und Betrug.

Am Anfang stehen zwei kleine irakische Brüder, die ein ausländisches Mädchen anhimmeln. Am Ende steht ein erwachsener Mann, der sich klar werden muss, wer er wirklich ist, ob er den Platz des verschwundenen Bruders weiterhin besetzt, ob er endlich er selbst werden möchte, ob er herausfinden kann, wer er sein sollte.

Krude liest sich schon die Einleitung, in der der Erzähler den Leser mit der Frage nach der Identität konfrontiert, mit einem Leben, das aus Lügen, Verstecken, Betrug und möglicherweise Mord besteht. Wer ist wer? Ist er der Bruder, ist er Junis, der Mörder - oder doch Jussif, der Junis' Witwe ehelicht, dessen Platz er einnimmt, dessen Schandtaten er büßen soll? "Es war, als würde jemand anders sie erzählen, eine dreiste Person in seinem Inneren, die sich aus seinem Archiv nach Belieben bediente."

Kafkaeskes Fabulieren

Wali transponiert Kafkas Josef K. mit Josef Karmali nach Bagdad. Das macht durchaus Sinn. Denn Kafka hatte bereits früh richtige Fans und begeisterte Lesezirkel in der orientalischen Welt, die sich verstanden fühlten, die seine Art, soziale und bürokratische Strukturen dazustellen, sehr vertraut, sehr wahrhaftig, als ihnen nahe empfanden. "Das Schloß" stellt für viele - immer noch - eine exakte Studie über das Ausgeliefertsein in der Gegenwart dar.

Walis Entscheidung, Kafka nicht nur zu zitieren, sondern anhand des Bagdader Wahnsinns mit den möglichen Steigerungen kafkaesker Situationen in einem labyrinthischen Wirrwarr zu spielen, macht diesen bizarren Roman wirklich lesenswert. Seitenlang wird man von einer angerissenen Geschichte zur nächsten gelockt, verliert den Überblick, in welchem Bruderleben nun wirklich was stattgefunden hat, aber die einzelnen Szenen stecken voller praller Lebenslust, selbst mitten im Krieg, umgeben von Zerstörung und blindem Hass. Das ist einzigartig.

Wie lebt man in einer Stadt im fünften Jahr des Krieges, in dem fast jeder zum Feind wurde, in dem man wenigen trauen kann, durch den Willkür nicht beendet, Folter nicht unterbunden wurde? Wie lebt es sich im Schatten permanenter Todesangst, wenn man gleichzeitig etwas Schwerwiegendes zu verbergen hat? Dass das nicht in ein tiefschwarzes Drama ausartet, sondern in den temporeichen Bericht eines arabischen Stadtwanderers, ist Najem Walis Kunst.

Schreiben im Exil

Denn natürlich gibt es Liebe, Liebe als einzigen beständigen Anker, und es gibt in den unmöglichsten Situationen das Licht echter Brüderlichkeit und uneigennützige Hilfe. Es gibt Sätze, die nicht nur für Menschen in Ausnahmesituationen gelten: "Menschen erinnern sich nicht an die Existenz von Bildern, sondern an die Bilder an sich."

Najem Wali wurde 1956 in Basra geboren, lernte Saddams Folterkeller und Gefängnisse kennen und floh zu Beginn des Iran-irakischen Kriegs 1980 nach Deutschland. Er studierte im Westen, arbeitet als freier Schriftsteller und Journalist in Norddeutschland, hat mehrere Romane geschrieben und betrachtete seine Muttersprache als die Heimat, die ihm geblieben ist. Als erster arabischer Romancier besuchte er Israel, um den "Feind" endlich kennen zu lernen, was ihm viele Iraker übel nahmen.

Täuschung als Thema

In "Jussifs Gesichter", dieser Brüdergeschichte, die so vieles im Unklaren lässt, die Unschärfe verstärkt, verwirrend Biografien ineinander verschachtelt, die Täuschung zum Thema macht, wird daher auch ganz klar die Botschaft vermittelt, dass wir alle Geschwister sind, dass selbst in größter Finsternis der Mensch dem Menschen ein Freund sein kann.

JUSSIFS GESICHTER

Roman aus der Mekka-bar

Von Najem Wali

Aus dem Arab. von Imke Ahlf-Wien

Hanser Verlag, München 2008

268 Seiten, geb., € 20,50

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