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Lied, Reim und Bild

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ALLERLEIRAUH. Viele schöne Kinderreime. Versammelt von Hans Magnus Enzensberger und verlegt bei Suhrkamp in Frankfurt am Main. Mit 391 alten Holzschnitten. Preis 16.80 DM.

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ALLERLEIRAUH. Viele schöne Kinderreime. Versammelt von Hans Magnus Enzensberger und verlegt bei Suhrkamp in Frankfurt am Main. Mit 391 alten Holzschnitten. Preis 16.80 DM.

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Liea, Keim una mia stenen in engei Beziehung zur Kinderseele und Scheines sie zurückzuführen in das Paradies, au dem sie stammt. Wie viele Erwachsen haben Heimweh nach einem Lied, das ihnen einst die Mutter in der Kinderstube sang, nach einem jener holprigen Reime mit dem sie sie tröstete und zum Lacher brachte. Die Eindrücke unserer Kinderzeit gehören zu den stärksten, die wir ie empfangen und sie wirken fort in dei Zukunft. Unbewußt oft, bis eine später Begegnung vielleicht offenbar macht, was sie uns bedeuten und was wir ihnen verdanken.

Solche Begegnung vermittelt uns da; wunderschöne Buch „Allerleirauh“, ir dem Hans Magnus Enzensberger 777 Kinderreime mit viel Verständnis, Liebe und Sorgfalt zusammengetragen hat. Mar blättert voller Entzücken in diesem Buch stößt auf Schritt und Tritt auf gute alt Freunde der Kinderjahre, liest sich fest und ist dann plötzlich mitten drin ir jener Welt, in der. sich das Wunder so gut mit der Wirklichkeit verträgt. Köstliche Erinnerungen werden wach beim Schmökern in diesem Buch, und jedei wird, neben den allgemeinen, seine ihm ganz allein gehörende finden.

Ich lese die Überschrift „Der goldene Wagen“, und da ist es wieder unsei altes Spiel, das wir „Im goldener Wagen“ nannten. Ich kletterte abends, nachdem die Mutter das Licht gelöschi hatte und uns schlafend glaubte, zi meiner kleinen Schwester ins Gitter-bettchen, und wir flüsterten einander zu wohin wir heute im Goldenen Wäger fahren wollten. Am nächsten Tag fragt dann eins das andere, was es gesehen habe, und jeder erlebte die Phantasien dei anderen nach und spann ie weiter aus Das war alles I Aber, für uns bedeutete ei die Beherrschung der ganzen Welt, sowei: sie unseren kindlichen Vorstellungen zugänglich war. Wir durchstreiften sie Abenfür Abend. Und auch die Reiche der Feer und Zwerge öffneten sich unserem Goldenen Wagen, er fuhr in die Regioner des Himmels, in die Bahnen der Gestirne und ins Reich der Wolken. Wir besuchten den Mann im Mond und ginger die Wege nach, auf denen das klein Mädchen seine sieben in Raben verwandelten Brüder erlösen wollte. Und manchmal kamen wir an die Tore des Himmels Sie waren von Engeln bewacht, und ei drang, obwohl sie fes,t, verschlossen waren, ein heller Schein hindurch.

Traum, Phantasie und Wirklichkeit — das alles ist eine heile Welt für das Kind. Das war einmal — und bei Enzensberger finden wir es wieder, warm, lebendig und unverfälscht.

Was alles lebt und webt in diesen alten, ewig neuen Kinderreimen. Wie anspruchslos und eingängig sind 6ie, wie handfest und zugleich poetisch. Mit ihnen spielt sich das Kind in die Welt hinein, entdeckt die vielen Dinge, die unsere Realität ausmachen und dringt mit dem Zauberstab der Phantasie über ihre Grenzen hinaus. Märchen und Kinderreim — sie sind Ausdruck einer Welt, in der das Wunderbare seinen unverwechselbaren Platz hat und die, vielleicht um ihrer Unwiederbringlichkeit willen, in guten Stunden auch den Erwachsenen verzaubert.

Aber Enzensbergers Buch ist natürlich nicht nur für die großen Leute gedacht. Es ist mit schönen alten Holzschnitten — englischen chap-books des 18. und 19. Jahrhunderts entnommen — geschmückt, an denen sich die Kinder freuen. Auch die, die noch nicht lesen können, finden hier ein reiches Feld für schöpferische Entdeckungen.

So reizend diese englischen Holzschnitte sind, in bezug auf die Illustration möchten wir Enzensberger doch einer gewißen Einseitigkeit zeihen. Er meint in seinem Nachwort, daß es keine gemäßen deutschen Illustrationen für eine Kinderreim-Sammlung gäbe. Aber wir haben schließlich unsere schönen alten Kinderbücher, beginnend mit Comenius' „Orbis Pictus“, dessen zierliche Holzschnitte der kindlichen Phantasie ein unerschöpfliches Betätigungsfeld bieten. Und wir haben die großen Illustratoren aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Anschauen von Hobreckers schönem Band „Alte vergessene Kinderbücher“ (1924), oder von Arthur Rümanns Publikation „Alte deutsche Kinderbücher“ (1937), ist immer sine besondere Belohnung für kleine Leute. Hier gibt es Schätze, die wieder auszugraben wert wären. Freilich sind die Bilder der englischen chap-books bei uns nahezu unbekannt, und so müssen wir Enzensberger dankbar sein, daß er sie uns erschlossen hat. Überhaupt müssen wir dankbar sein, daß uns dieses schöne Buch geschenkt wurde in einer Zeit, in der die Kinder vorm Bildschirm hocken und mit ihrem komplizierten technischen Spielzeug das eigentliche Spielen verlernen, in einer Zeit, in der die Mütter ihnen kaum mehr die alten Verse uj&i Reime nahebringen. In Enzensbergers Buch raunen sie wieder, die alten Quellen, die in deT Kindheit zu finden für das ganze Leben bedeutsam ist. Darum kann man diese Sammlung nicht genug empfehlen. Ein rechtes Hausbuch sollte sie werden für alle, denen die Ursprünge noch etwas wert sind. Mancher könnte sie hier vielleicht wieder entdecken.

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