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Listige Lustigkeit

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Karl Markus Gauß vereinigte seine meist treffenden, oft witzigen, manchmal tiefschürfenden kurzen Aufsätze über unseren Kontinent zum „Europäischen Alphabet”. Er betrachtet Länder, Völker, Sitten, Unsitten mit wehmütigliebevollem Rlick, plaudert auf den ersten Rlick über dies und jenes in gut österreichischer Manier hinweg, bis man erst auf den zweiten entdeckt, wie listig seine Lustigkeit ist.

Wer denkt schon dran, wenn das Wort „Auswanderung” fällt, daß die weitaus größte „burgenländische Stadt” Chicago ist, die zweitgrößte Wien, die drittgrößte New York, und Eisenstadt erst an vierter Stelle folgt? Gauß erinnert damit alle, die keine Arbeitsemigranten oder Flüchtlinge mögen, daß Europa „lange Zeit kein Ziel für Einwanderer war, sondern der Ausgangspunkt großer Wanderungen”.

Wer weiß schon, daß das Wort Dissident vom Warschauer Frieden 1573 stammt, in der Geschichte bekannt als Pax dissidentium? Nachzulesen mit Reispielen einer Entwicklung, die „kundige Saboteure der alten Ordnung dazu verführt hat, sich als Rau-meister der neuen zu fühlen” oder „aus Kritikern des Militarismus Oberbefehlshaber” machte.

Ein anderes schönes Reispiel: Das litauische Wort Tutisa, liest man, bedeutet insofern „Hiesiger”, als der so Genannte weder Litauer noch Pole oder Russe ist, „sondern alles zusammen oder auch gar nichts davon, eine nicht mehr exakt zu bestimmende Mischung dieser Teile oder vielmehr etwas unbenennbares Viertes, jedenfalls einer, dem der Zweck seiner Existenz nicht darin blüht, daß er sie fest zu umreißen wüßte ...” So gesehen sollte jeder anständige Europäer „Tutisa” sein.

Unter „Fremde” wird daran erinnert, was man etwa im Salzburger

Land einst mit dem Wort „Fremdenzimmer” bezeichnete und wie es heute steht: „Wer wohlhabend genug ist, sich ein Fremdenzimmer in Salzburg zu leisten, kann kein Fremder sein, denn der Fremde ist heute eben dadurch definiert, daß er arm ist oder der Armut verdächtigt”: „Die einen im Westen wissen vom Osten in bester Absicht gar nichts, die anderen mit bösem Vorsatz immerhin einiges.” Seine eigene These lautet, die Nation sei eine „Gesellschaft von Menschen, welche sich durch einen gemeinsamen Irrtum bezüglich ihrer Herkunft einig sind”.

Wenn er über die Sprachen im heutigen Europa spricht, vergeht ihm der Humor: „Die Vielfalt europäischer Sprachen zu respektieren, gerade wo spicher Respekt unpraktisch ist und den reibungslosen Geschäftsverkehr der Europäischen Union zu stören vermag, ist unverzichtbar.” Seine eigene Rotschaft verkündet er unter Z wie „Zwei Europa”: „Neben dem klassischen, westeuropäi-sehen, museal-grandiosen, historisch-pathetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker.”

Die Währungsunion schließt die eine Hälfte von den Segnungen Europas aus. Am Ende wird Gauß bitter: Europa sei, „gereinigt von allen Verbrechen”, zum Synonym für Demokratie, Toleranz und Menschenwürde „umgelogen” worden, „als hätten die Indianer, von der Religion des Goldes getrieben, sich zum Völkermord aufgemacht, die Asiaten den Kolonialismus erfunden und die Afrikaner den faschistischen Rassewahn exekutiert”. Man wird dieses Ruch immer wieder mit Gewinn lesen.

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