Literarisch raffiniert und SCHONUNGSLOS

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'Es steht in der Tat in der Macht der Gesetzgeber, in jedem Kirchspiel des Königreichs eine Schule zu gründen', forderte Jonathan Swift in einer Predigt.

Jonathan Swift

geboren am 30. november 1667 in Dublin, gestorben am 19. oktober 1745 ebendort: sechzehn Bände umfasst die standardausgabe seiner Prosaschriften.

Gullivers Reisen

Empfehlenswert sind die Übersetzungen von Hermann J. Real und Heinz J. Vienken (Reclam) und Christa Schuenke (Manesse).

'Mein Hauptziel in allem, was ich bei meiner Arbeit auf mich nehme, ist, der Welt eher wehzutun als sie zu unterhalten', schrieb Jonathan Swift 1725 in einem Brief.

Drei Wege gebe es, um Premierminister zu werden: "Der erste sei, zu wissen, wie man am klügsten seine Frau, Tochter oder Schwester an den Mann bringen kann; der zweite bestehe darin, seinen Vorgänger zu verraten oder zugrunde zu richten; der dritte, auf öffentlichen Versammlungen mit wütendem Eifer gegen die Korruptionen des Hofes vom Leder zu ziehen." Der Premierminister besteche dann die Mehrheit eines Senates oder Rates, sichere sich Straflosigkeit und setze sich schließlich "beladen mit den Einkünften des Volkes zur Ruhe".

Was beinahe wie ein aktueller politischer Kommentar klingt, ist fast 300 Jahre alt. Jonathan Swift, Dekan der St. Patrick's Cathedral in Dublin, verfasste diese Sätze 1726, sie finden sich in seinem berühmtesten Werk, bekannt als "Gullivers Reisen".

Auch in seinen anderen, oft anonym verfassten Schriften und in Predigten reagierte Swift auf Anlässe und Situationen. Der Literaturtheoretiker Edward Said sah in ihm daher "eine Art Lokalpolitiker, Kolumnisten, Pamphletisten, Karikaturisten". Swift thematisierte Krieg, "Eroberung, koloniale Unterdrückung, religiöse Zersplitterung, Manipulierung von Körper und Geist, Projekte zur Naturbeherrschung und zur Beherrschung von Menschen und Geschichte, die Tyrannei der Mehrheit, monetären Profit als Selbstzweck, die Schikanierung der Armen durch eine privilegierte Oligarchie. Jedes dieser Themen läßt sich leicht in mindestens einem Werk Swifts nachweisen", meinte Said und erinnerte daran, dass es vor dem späten 19. Jahrhundert nur wenige Autoren gab, "deren Einstellung zu diesen Dingen sich derart scharf von der der herrschenden Mehrheitsmeinung abhebt."

Politische Satiren

Der am 30. November 1667 in Dublin geborene Jonathan Swift hatte in England als Sekretär des Diplomaten Sir William Temple die Politik kennengelernt. Ein politischer Denker blieb er zeitlebens, auch als Priester und Schriftsteller. Sein Metier war die Satire, mit ihren Zuspitzungen wollte er konkrete gesellschaftliche Veränderungen bewirken.

In England hatte Swift sich wohl eine Karriere in der anglikanischen Kirche erhofft. Königin Anne aber versetzte ihn nach Dublin. Swift mochte Irland nicht, das hielt ihn aber nicht davon ab, sich für die Iren einzusetzen und gegen die wirtschaftliche Unterdrückung durch England, gegen Armut und Hunger aufzutreten -und für mehr Bildung. "Es steht in der Tat in der Macht der Gesetzgeber, in jedem Kirchspiel des Königreichs eine Schule zu gründen, wo die geringeren und ärmeren Kinder englisch schreiben und lesen lernen, und den Lehrern ein angemessenes Gehalt zu geben", forderte Swift in einer Predigt. "Und wahrhaftig, wenn wir bedenken, eine wie niedrige Steuer für ein solches Werk genügen würde, so ist es ein öffentliches Ärgernis, dass etwas Derartiges noch nie versucht worden ist, ja, dass man vielleicht noch nie daran gedacht hat." An vielen Kirchen unternähmen die Kirchen das bereits selbst, aber "oft tragen die reichsten Pfarrkinder [ ] am wenigsten bei."

Konsequent zu Ende gedacht

In seiner berühmten und grausamen Satire "Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können" machte Swift 1729 den Vorschlag, irische Kinder zu mästen und deren Fleisch zu verkaufen. Er griff darin also eine tatsächliche Situation -die himmelschreiende Armut in Irland -auf und dachte das Denken der Ökonomen (Mensch als Rohstoff und Ressource, funktionierender Fleischexport, Prinzip der Nutzenmaximierung) konsequent zu Ende. Swift nahm den Markt beim Wort.

"Reisen zu mehreren entlegenen Völkern der Welt in vier Teilen", das 1726 erschien, gehört heute, bekannt als "Gullivers Reisen", zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur, auch wenn wohl nur wenige es in voller Länge gelesen haben. Verfasser sei ein gewisser Lemuel Gulliver, hieß es, "zuerst Wundarzt, danach Kapitän mehrerer Schiffe". Manche behaupteten sogar ihn zu kennen. Aber er war ebenso erfunden wie die beschriebenen Länder.

Mit den verharmlosenden und stark gekürzten Kinderbuchversionen von später hat das Werk nicht viel gemein. "Mein Hauptziel in allem, was ich bei meiner Arbeit auf mich nehme, ist, der Welt eher wehzutun als sie zu unterhalten", schrieb Swift 1725 in einem Brief. Mit "Gullivers Reisen" erreichte er wohl beides: Raffiniert wusste er seine Leser zu unterhalten, doch tat er das so, dass deutlich wurde: Was hier erzählt wird, geschieht nicht in der Ferne oder in Fantasien. All die zerstörerischen Schwächen menschlichen Handelns werden hier vergrößert, verkleinert, gedreht, gewendet, zugespitzt: schonungslos.

Reisebericht, aber anders

Reiseberichte waren im beginnenden 18. Jahrhundert äußerst beliebt. Um dokumentarischen Charakter vorzutäuschen, gab Swift Daten, Fakten und Maße präzise und detailliert an. Zugleich aber streute er Zweifel bei seinen Lesern, etwa durch absichtliche Ungenauigkeit. Denn die Leser sollten "Gullivers Reisen" nicht als Lügengeschichte lesen, sondern ihre eigene Gesellschaft wiedererkennen. Im Land der Zwerge, der Riesen, der Pferde sollten sie auf die ihnen bekannte Geschichte treffen, sie sollten sich mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen auseinandersetzen, die ihnen vertraut und oft genug geradezu skandalös waren. Vieles von dem, was Swift 1726 kritisierte, ist auch heute noch erstaunlich aktuell.

"Gullivers Reisen" wurde nach seinem Erscheinen im Oktober 1726 zunächst begeistert gelesen. Nach und nach aber kamen kritische Stimmen auf, vor allem von Seiten der Theologen wurden Bedenken laut. Menschenfeind, Misanthrop wurde Swift genannt. Den Vorwurf griff Swift in einem Brief 1725 bereits selbst auf: "Ich habe Stoff zusammen für eine Abhandlung, die beweist, wie falsch jene Bestimmung animal rationale ist, und in der ich zeige, dass sie nur rationis capax lauten sollte. Auf diesem großen Fundament der Menschenfeindschaft [ ] ist das gesamte Gebäude meiner Reisen errichtet, und ich werde keine Ruhe haben, bis alle aufrechten Menschen meiner Meinung sind." Der Mensch sei also nicht per se ein vernünftiges Wesen, sondern eines mit Leidenschaften, das der Vernunft fähig sei.

Lange Zeit galt "Gullivers Reisen" als zu negativ. Den Menschen nicht als vernünftiges Wesen anzuerkennen, war wohl doch zuviel. Mit dem Ersten Weltkrieg jedoch nahm das Interesse an den Büchern wieder zu. Vielleicht verstand man nach den schrecklichen Erfahrungen von Schützengräben und Giftgas wieder mehr, was Swift unter vielem anderen da eigentlich erzählte. Dass sich Menschen nicht per se auf ihre Vernunft verlassen dürfen, Wissenschaft und Fortschritt nicht per se ins Bessere führen (eindrücklich die Aufzählungen von Kriegsmaschinen und ihren Auswirkungen im vierten Buch), dass der Reichtum der einen oft die Armut der anderen bedinge: All das führt "Gullivers Reisen" vor, aktuell wie eh und je und in einem heute noch beeindruckenden und aufrüttelnden Stil.

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