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Literarisches Theater

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Zeiten eines chaotischen Überganges — und das Jahr 1945/1946 war solch eine Zeit — bringen oft eine Blüte des Theaterlebens. Auch Wiens Theater haben im vergangenen ersten Jahr unserer wiedergewonnenen neuen Staatlichkeit nicht nur eine überraschende Lebendigkeit sondern auch eine Höhe der Leistungen gezeigt, die trotz aller Daseinsnot, die uns noch immer — und wohl für lange — umfängt, zu großen Hoffnungen berechtigt. Es gehört nun zu den eigenartigen, aber ehernen Gesetzen des Theaterlebens, daß seine größten Schwierigkeiten nicht in Stunden allgemeiner Not sondern vielmehr in Zeiten ökonomischer Gesundung auftauchen. Wir wollen uns darüber nicht hinwegtäuschen, daß die Krise des Wiener Theaters dann kommen wird, wenn endlich an die Lösung unseres Währungsproblems wird geschritten werden können.

Schon jetzt wirft manchmal die Geldknappheit ihre Schatten voraus; die Theater sind nicht mehr so gut besucht wie noch vor wenigen Monaten, und wir wollen hoffen, daß dann, wenn die Stunde der Krise für unsere Theater kommt — und sie wird

kommen —, unsere Bühnen sie überdauern werden. Vor allem aber, daß auch in der kommenden Epoche, in der das geschäftliche Risiko einer Theaterführung wachsen wird, das literarische Niveau des letzten Jahres im großen und ganzen gehalten wird.

Denn dies ist das Charakteristische des Jahres 1945/46: die Theater weckten und befriedigten literarische Bedürfnisse.

*

Das Volkstheater hat das Wagnis unternommen, Grillparzers Lustspiel — es hieße besser Komödie — „W eh dem der lügt“ herauszubringen. Es wird immer von Mut zeugen, wenn eine Bühne sich an dieses Kleinod österreichischer Dramatik ' heranwagt, das in seiner metaphysischen Tiefe den Vergleich mit den weisesten Komödien Shakespeares aushält und andererseits burleske Elemente enthält, deren kultur-philoscphische Hintergründigkeit immer wieder Unverständnis begegnen wird und muß. Zudem stellt gerade dieses Stück ungeheure Anforderungen an das Können der Schauspieler. So mag auch manches an der Aufführung des Volkstheaters zur Kritik herausfordern. Dennoch hat Hans Thimig

sich mit der Inszenierung des Werkes, das die tiefste Frage der Theorie und des prak-' tischen Leberis in einer dramatischen Handlung voll köstlichem drastischem Humor aufwirft, das Wahrheitsproblem, ein großes Verdienst erworben.

Von Tschechows „Onkel Wanja“ über Shaws burleske Komödie „Zu wahr, um schön zu sein“ und Aristophanes' „Lysi-strata“ zu Glaudels „Bürgen“ und Strind-bergs „Ostern“ spannt sich der Bogen des Spielplans des Theaters „Die Insel“ in der Komödie. Direktor Leon Epp darf als der mutigste aller Wiener Theaterleiter angesehen werden. Mit einem Ensemble,- das noch nicht alle Register beherrscht, das aber doch einen bemerkenswerten Stilwillen erkennen läßt, hat Direktor Epp das Experiment gewagt, ein absolut literarisches Programm zu bringen — denn zwei oder drei Stücke leichteren Genres ändern daran nichts. Es ist ihm in dem ersten Jähr der wiedererweckten „Insel“ gelungen, durchzuhalten. Wird diese interessante Bühne auch in der kommenden Zeit ihr Niveau halten und steigern können? Jeder Theaterliebhaber wird dies nur wünschen können. Ohne die „Insel“ würde heute in unserem Wiener Theater eine Lücke klaffen, die alle literarisch Interessierten, alle, denen die Existenz eines Theaters von geistigem Wagemut am Herzen liegt, schmerzlich empfinden müßten.

Eine Bereicherung des Wiener Geisteslebens stellen die St. Stephans-Spieler dar, deren Ziel es ist, im besten Sinne katholisches Theater zu bieten, Theater allgemeinmenschlicher Prägung mit besonderer Pflege der mächtigen, jahrhundertealten, katholischen Geistes- und Bühnentradition unserer Vaterstadt. Vor wenigen Wochen traten die St. Stephans-Spieler mit einer Lesefeier vor das Wiener Publikum, in der sie — wir dürfen es, ohne zu übertreiben, aussprechen — eine der gewaltigsten Schöpfungen unserer alten Literatur, das Streitgespräch „Der Ackermann und der Tod“ des Johannes von Saaz aus dem Jahre 1400, den Wienern von neuem schenkten. Es wird noch Monate dauern, bis diese Schauspielergemeinschaft, die unter der Leitung von Professor Kuchenbuch 'steht, mit Bühnenaufführungen vor das Wiener Publikum treten wird. Bis dahin wird sie in Lesefeiern, die Homer und Dante gewidmet sind, dem kostbarsten Gut dienen, das

unsere Schauspielkunst zu bewahren hat, der deutschen Sprache.

Wenn jemand kennenlernenwill, was österreichische Kunst der Improvisation ist, Wiener Theaterleidenschaft, die sich allen Schwierigkeiten trotzend durchzusetzen versteht, möge das „Studio der Hochschulen“ besuchen, das in diesen Wochen auf das erste Jahr seines Bestehens zurückblicken konnte. Wir sahen uns vor kurzem den „Urfaust“ auf dieser kleinen Studentenbühne an — und waren beglückt ob dieser Intensität des Spiels, dieser .Hingabe an die Dichtung, dieser Iemu vor der Sprache. Diese* Studenten, die neben ihrem Studium in unermüdlicher Arbeit .dem Theater dienen, sie erfüllen eine bedeutende Funktion im Wiener Kulturleben der Gegenwart. Ein Blick auf den Spielplan des Studios läßt erkennen, wie weit gespannt die Interessen dieser jungen Menschen sind; wir finden neben Hofmannsthals „Tor und der Tod“ und Shakespeares „Sommernachntraum“ Mells „Apostelspiel“, Wildes . „Salome“,

Halbes „Strom“ und zuletzt Sdionherrs „Kindertragödie“.

Das Burgtheater kann auf ein stolzes Jahr seiner wechselvollen Geschichte zurückblicken. Direktor Raoul Aslan hat ihm einen Spielplan gegeben, der Physiognomie zeigt. Die Burg ist die Bühne der Weltliteratur auch im Wien unserer Tage ge-, blieben. Konservativ und aufgeschlossen zugleich, erfüllt sie eine große Aufgabe in unserem in Schmerzen geborenen Staatswesen: im geistigen Raum die Kontinuität zu wahren, die allein uns ermöglicht, auch schwere Krisen zu überdauern. Eine beglückende Nachricht: im. Akademietheater wird Georg Büchners „Woyzek“ vorbereitet. Das revolutionärste Drama der deutschen Literatur, und zugleich eine Dichtung, die aus einem Mitleid Dostojewskis,cher Tiefe geboren ist, wird damit wohl endgültig jenen Platz in den Herzen der Wiener sich erobern, der diesem Werk des genialen, vor mehr als einem Jahrhundert verstorbenen Hessen schon längst gebührt. Dr. M.

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