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Literat im Dschungel der Politik

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ERINNERUNGEN UND REFLEXIONEN. Von Ernst Fischer. 477 Seiten. Rowohlt-Verlag, Hamburg. Leinen, DM 28.—.

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ERINNERUNGEN UND REFLEXIONEN. Von Ernst Fischer. 477 Seiten. Rowohlt-Verlag, Hamburg. Leinen, DM 28.—.

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Was die weinigen Kenner vielleicht schon seit Jahren wußten, was andere, wie der Rezensent, nur vermuten konnten, ist jetzt, nach dem Erscheinen dieses Buches, schwarz auf weiß bewiesen: Emst Fischer, der brillante politische Redner, geistreichste und schlagfertigste Zwischenrufer im Parlament der zweiten Nachkriegszeit und Autor zahlreicher blendender Einfälle und propagandistischer Gags, die in der trostlosen Situation der KPÖ als „Stiefelputzer der Besatzungsmacht“ doch wirkungslos verpuffen mußten, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der an Begabungen keineswegs armen österreichischen Gegenwartsliteratur. Wenn das seinen Landsleuten so lange verborgen blieb, so liegt das allerdings nicht nur daran, daß, wie man jetzt erfährt, zahlreiche Manuskripte, darunter ein fertiger Roman, in der bewegten menschlichen und politischen Odyssee das heute Siebzigjährigen über Bord gingen, während manches andere der bei politisch so stark engagierter Literatur ja stets drohenden Gefahr erlag, vom inzwischen umgeschüagenen politischen Wind verweht zu werden oder gar schon von Anfang an nicht „anzukommen“, Doch wird es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis fleißige Dissertanten der Germanistik nach dem Lyriker, Baudelaire-Übersetzer, Literaturkritiker, Essayisten und Autobiographen auch den Dramatiker Fischer wiederentdecken und die Spuren seines Talentes in dem vielleicht nicht ganz zu Unrecht vergessenen, vom Autor und seinen Genossen selbst bald abgelehnten Burg theater-Stück „Das Schwert des Attila“, in dem darauf folgenden Lenin-Drama, ja selbst dann in dem beflissenen Anti-Tito-Stück aus Fischers „stalinisbischer“ Epoche und in dem nach Umfang und Anlage verunglückten unförmigen Prinz- Eugen-Roman in Dialogform freile- gen werden.

Doch zurück zu den vorliegenden „Erinnerungen und Reflexionen“, einem Bekenntnisbuch und modernen Bildungsroman! Es ist ein Buch von beklemmender, hinreißender Dramatik, in dem der einstige Nietzsche-Jünger, der rebellische Sohn eines vermutlich sehr braven aber ebenso „kommiissigen“ k. u. k. Offiziers, seinen bewegten inneren und äußeren Werdegang mit schonungsloser Offenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, aber ohne falsche Selbsterniedrigung oder Selbst- bemitleidung erzählt. Die Kapitel über die Kindheit und Jugend geben das eindrucksvolle Bild einer an der charakterlichen Unvereinbarkeit der Eltern gescheiterten „ärarischen“ Familie, der Rebellion der die Mutter vergötternden, offenbar durchwegs begabten und frühreifen Kinder gegen den V ter und die „kaka- nische“ Vaterwelt; die Schilderung des Zusammenbruchs an der italienischen Front und der Rückkehr des von seinen Soldaten zum Soldatenrat gewählten Offiziers-Aspiranten gehört zum Stärksten und Besten, das je an „Kriegsliteratur“ geschrieben wurde und der eingeschobene „Brief an Anny“ des eirfst wegen „pornographischer Gedichte“ von der Schule Verwiesenen ist ein Kabinettstück erotischer Literatur: Vor allem aber ist die politisch überhitzte Atmosphäre der österreichischen Zwischenkriegszeit und dann die gespenstische Welt der Emigranten im Moskau der „großen Säuberung“, so wie die Kriegszeit (das Buch endet mit Fischers Rückkehr nach Österreich) so packend und anschaulich wiedergegeben, daß man für die Aufnahme einiger Kapitel in ein Lesebuch zur österreichischen Zeitgeschichte für junge Menschen, die jene wirre, erregende Zeit nicht mit- erlebt haben, plädieren möchte.

Hier muß allerdings sogleich vor einem Mißverständnis gewarnt werden. Als Quellenwerk zur Dokumen tation über geschichtliche Fakten und Daten ist Fischers Buch natürlich völlig ungeeignet. Es bedürfte gar nicht der ausdrücklichen Warnung des Autors an die Adresse des Kritikers und Historikers, daß die stets in direkter Rede abgefaßten Dialoge natürlich nur dem Sinn nach und nicht wörtlich die einst mit Otto Bauer, Dimitrov, Togliatti usw. geführten Gespräche wiedergeben. Fischer gibt selbst zu, kein sehr gutes Gedächtnis zu besitzen, was man ruhig in die positive Formulierung umwandeln könnte, daß ihm eine lebhafte und schöpferische Phantasie gegeben wurde. Daß selbst die wiederholt nach bewährter expressionistischer Manier zur Beschwörung der Zeitstimmung eingestreu- ten Bruchstücke aus Schlagern und Liedern jener Zeit aus der Erinnerung fast durchwegs falsch zitiert werden, wird man nicht weiter übel nehmen. Aber wenn im Zusammenhang mit heimlichen „Treffs“ in der Zeit der „Illegalität“ zwischen 1934 und 1938 Joseph Buttinger, der Führer der „Revolutionären Sozialisten“, als „Franz Puttinger“ erscheint und ebenso dann auch noch in dem Personenverzeichnis am Ende des Buches, dann ist das schon ärgerlich, zumal Buttinger in seinem vor mehr als anderthalb Jahrzehnten erschienenen Buch „Am Beispiel Österreichs“ seinerzeit und zwar sehr ausführlich über jene Verhandlungen in einer Wohnung in der Döblinger Hauptstraße berichtet hatte, inzwischen in New York eine große, angesehene Bibliothek zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung errichtet und außerdem zwei international anerkannte Werke über Vietnam geschrieben hat. Allerdings hätte hier der Lektor eingredfen müssen, für den Unkenntnis der österreichischen Verhältnisse keine Entschuldigung ist, zumal Buttingers Buch seinerzeit bei einem Kölner Verlag herauskam.

Es könnten noch mehrere ähnliche Beanstandungen aufgezählt werden, die doch nicht das Wesentliche dieses Buches träfen. Fischer gibt heute selbst zu, im Grunde zum Politiker ungeeignet zu sein, weil ihm der Sinn für die Macht fehle und der „Apparat“ zutiefst zuwider sei; und der Parteiausschluß, der gerade mit dem Erscheinen des Buches zusammenfiel, so als hätten seine innerparteilichen Gegner ihm doch noch eine kostenlose Propaganda nachliefem wollen, bestätigt diese Selbsteinschätzung in einigermaßen gespenstischer Weise. Erinnert sich Emst Fischer noch an jene makabre „prophetische“ Parodie in der „Arbeiterzeitung“, in der zur Zeit der Slänsky- und Rajk-Prozesse ein Schauprozeß in einem kommuni stisch gewordenen Österreich gegen „Fischer und Genossen“ unter Vorsitz des gleichen Parteisekretärs Fümberg geschildert wurde, der jetzt tatsächlich Fischers Ausschluß aus der Partei betrieb?

Der von der durch und durch politisierten Atmosphäre der ersten Nachkriegszeit in die Politik gezogene sensitive Literat, der jetzt offen bekennt, daß er auch sein Rednertalent erst entdeckte, als er, um einer hübschen, umworbenen Frau zu imponieren, in Graz für einen verhinderten Parteiredner aus Wien „einsprang“, ist ja bezeichnenderweise nicht wegen politischer, sondern zunächst wegen literarischer Fragen von der engherzigen Parteilinie des „sozialistischen Realismus" abgewi- chen. Er, der jetzt mit der vielleicht letzten großherzigen Illusion seines Lebens die Auflehnung der „Neuen Linken“ und der „außerparlamentarischen Opposition“ als die ihm selbst seit seiner Jugend vertraute Auflehnung gegen angemaßte Autorität begrüßt, konnte konsequenter- weise nicht unbeschränkt lange seinen scharfen Intellekt einer weit unduldsameren und mindestens ebenso unglaubwürdigen Autorität unterwerfen, wie es einst in seiner eigenen Kindheit und Jugend an Graz die Autorität seines Vaters war, gegen den der halbwüchsige Knabe im Zuge einer dramatischen Auseinandersetzung den Revolver richtete.

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