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Lob des Primitiven

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Die Auseinandersetzung mit dem Primitiven stellt sich auf Schritt und Tritt, und die Entscheidung ist schwer: Wo ist die gültige Wertskala? Was ziemt dem Kopf, was dem Leib?

Soll man den groben Sport verwünschen oder als ablenkende Circenses gutheißen? Ist die Blechmusik am grauen Morgen, an dem man etwas Anmut und Hoffnung braucht, nicht das für den gemeinen Tag richtige kalte Sturzbad? Soll man (als Hausfrau, Redner, Schneider, Architekt usw.) überhaupt noch versuchen, „feine Form“ durchzusetzen? Soll man den dünnen Gedankenfilm, in welchem niemand erschlagen oder vergewaltigt wird, von Staats wegen finanzieren? Soll man für die Fremden „bürgerlich“ bauen oder nur Raststätten oder Plätze zum Zelten? Soll man den Bildungsfreund zum Tee einladen oder darauf zählen, daß er gleichfalls der Gescheitheit müde ist und menschlich sich erst beim Wein auftut? Soll man im Sommer barhäuptig gehen usw.?

Die Hüter der kulturellen Werte sehen bereits im Aufzeigen des Dilemmas die Barbarei. Aber sie vergessen die genialen Naturen, die Aristokraten des Geistes und der Geburt, die seit jeher das Untertauchen in das Animalische als Kompensation gebrauchten. Der Entschluß des Feingebildeten, lieber zugrunde zu gehen als an der Roheit der Zeit mitzutun, ist nobel, abeT er nützt nichts. Er hilft nicht einmal der viel-beschrieenen Kultur. Denn diese ist ja nur die eine Seite. Die andere, das immer wieder sich durchsetzende Primitive, kann durch Bildung verhüllt, nie aber zum Verschwinden gebracht werden. Von einer Menschheitsdämmerung zur andern ist es wieder mächtig. Wir leben zweifellos im Aufbruch, im Aufbrechen des Instinkthaften. Die zierlichen Dek-kerln, die Schleierchen und Feigenblätter reichen nicht aus, das Menschliche zu verstecken. Und man wünscht es nicht einmal. Das Goethe - Wort von der Pflicht, „die Menschen nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollte n“ zu schildern, konnte nur eine erziehungsgläubige Zeit ernst nehmen. Die Aristokratie, so sagt man, habe im Gefängnis Menuett getanzt. Wahrscheinlich stimmt es nicht einmal für 1793. In den heutigen Kerkern — jedenfalls — geschieht Drastischeres.

In Amerika gibt es einen Zweig des Grundstückhandels, der „einsame Inseln“ für die „Tarzans und Robinsons“ in Katalogen bereit hält. Die in unseren Zeitungen ausgebotenen, nie erschwinglichen „Landsitze mit kleiner Wirtschaft“ reizen dieselbe Sehnsucht. An den Schweizer Seen werden Plätze zum Zelten bereitgemacht. Und am Graben steigen aus langen Autos braune Männer mit Bauch und Buschhemd, magere Monalisas mit Schifferhosen und sonst sehr wenig. Am hellichten Tag. Es stellt sich heraus, daß es südländische Notabein sind, die am Abend mit weißem oder blauem Smoking, in schulterfreiem Kleid die Un-gebundenheit des Vormittags überkompensieren. Sie kümmern sich den Teufel um das, was die Leute sagen. Und Olaf G., der Zeichner? Der, sommers nur mit einem Schurz bekleidet, Äpfel abnimmt und Besucher unterhält, tut er was anderes? Wie war es mit dem Aller-sensibelsten, mit Gustav Klimts rauhem Gewände, seinem Kraftbewußtsein mit dem Beutel mit Geld, aus dem jeder herausnahm, was er brauchte? Das Primitive ist für eine bestimmte Höhe des geistigen oder gesellschaftlichen Daseins wichtig. Die Jagd, der Krieg und der Rausch, die Alpinistik und die Reitkunst waren seit je mit der „Macht“ gekoppelt. Wie schnell lernt der Arrivierte die Jägersprache! Der Mühselige und Be-ladene hat die periodische Primitivität nicht nötig. Er hat sie den ganzen Tag. Aber dem gedankenreichen Künstler, dem neureichen Händler oder dem einflußreichen Politiker ist mit Dichterlesungen oder Cembalokonzerten nicht gedient. Er trachtet aus tausend Gründen, guten und schlechten, zum zeitweisen Höhlendasein. Er flieht die Feinheit, will Johanaan sein und haßt die große Babylonische, die Eitelkeit, selbst an sich. Er fühlt mit allen Instinkten, daß ein neuer Lebensstil den Anlauf nimmt, der vom Urgrund starten muß und nicht von den Rüschen und Falbeln spätwienerischer Intellektualität.

Um die künstlerische Primitivität zu erklären, muß man an die Heiligen denken, die sich kasteiten, verstümmelten. Zeichner, von einer geradezu Dürerschen Sicherheit des Strichs, verzichten auf den Sinnenreiz, werfen die Gottesgabe beiseite und beginnen das Klecksen. Es gibt Bildhauer, die ein übersensitives Rokoko köstlich wie Scheurich zu machen verstünden und die im Kubismus ihr Talent abwürgen. Beide wissen, daß solcher Charakter ein Bettlerdasein bedeutet. Nicht immer, ja nicht einmal oft, steckt Psychopathisches hinter solchem Tun.

Im Gegenteil, die Echten wollen sich opfern, wollen vorleben, Beispiele des redlichen Suchers geben, nicht bei den Alten Anleihen machen usw. Ebenso die Architekten, die ganz gut wissen, wie nun einmal der Geschmack der Mächtigen ist und trotzdem Jagdzimmer, mit Hirschgeweihen die andern entwerfen lassen. Ja, die den Ruf zur Bildung des neuen Ausdrucks so stark verspüren, daß sie stilistische Wagnisse im vollen Bewußtsein der Gefährdung ihres Rufes unternehmen. Der Bürger versteht dies nicht. Er versteht auch nicht die jungen Leute, die sich für die erste Raumrakete bereit finden werden. Er hört den Klang nicht, der in den Sphären zittert: Opfere dich!

Das Primitive beginnt im Gemeinen und seine erhabene Abart reicht ins

Metaphysische. Wir wollen jedoch auf der Erde bleiben.

Unser Lebensstil ist an einem Punkte angelangt, wo die «alte Form“ einen leicht komischen Beigeschmack annahm. In ihr ist Lavendel. Reizender, zarter Geruch des Abgestorbenen, des Altmodischen. Der Abendanzug des Herrn ist unter Labour nicht das, was er unter Eden war. Kann man sich auf dem Naschmarkt einen Herrn im weißgefütterten Abendmantel vorstellen, wie er noch bei den Opernbällen der zwanziger Jahre korrekt war? Was müßte dies für ein Mann sein, dem man die „große Form“ als Selbstverständlichkeit zumißt! Wie seltsam sind die Bilder von dem venezianischen Millionärfest! Die grenzenlose Naivität der Leute ohne Sorgenl Ist dieses chimärische Menuett nicht auf einem anderen Stern getanzt? Sind die Champagnerbrunnen nicht mit. Furcht, mit Bestechung gefüllt?

Wie falsch sieht man das Primitive, wenn man es als Roheit rundweg ablehnt. Es ist die unbedingt notwendige andere Seite des gesteigerten Gehirnlebens. Man müßte es lenken! Das Zerebrale erfordert das Vitale. Da die Technik uns so rücksichtslos ergreift, brauchen wir den Wald, die schweren Schuhe, das Essen aus dem Rucksack. Da die Bücher uns mit Herrlichkeiten der Kathedralen überschwemmen, benötigen wir den Gegensatz der gefrorenen Musik: den Hauswürfel, in welchem die Fenster hart und nackt eingeschnitten sind. Das Würfelhaus ist ein wenig dumm, aber es ist redlich. Die Konsolengesimse sind es nicht. Der Mann, dem die fußnotengezüchtete Wissenschaft, die funkelnden Essais täglich anfliegen, für ihn ist es Entspannung, Erlösung, mit dem Hund spazierenzugehen. (Für den Hund auch, aber aus entgegengesetztem Grund.) Die Einfalt ist dem Geiste interessant geworden. Oft denkt man, daß Jakob Burckhardt, der die „schrecklichen Vereinfadier“ vorausahnte, heute eher ein Wortspiel über die „terribles scienti-ficateurs“ erfinden würde. Wie eine warme und nichtsnutzige Welle schlägt einem die „Verwissenschaftlichung“ aus den Journalen entgegen. Auf und ab und zick und zack geht das Leben. Es läßt nach zwölf Jahren „Einfachheit“ nun bereits wieder das „Komplizierte“ fürchten — die intellektuelle Gerissenheit, die alles und jedes zerredet und die uns so entsetzlich arm zurückläßt. Die redliche, einfache, unüberspitzte, banale Lebensmöglichkeit! Wo ist sie bei so viel Geist?

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