6666186-1960_35_07.jpg
Digital In Arbeit

Lobsang und die Imperialisten

Werbung
Werbung
Werbung

In“ einen braunen Mantel “gehüllt, geht der tibetische Lehrer durch die Reihen seiner zehnjährigen Schüler und kontrolliert, wie sie den verlangten Aufsatz gestalten. Thema: „Welches Land ist am blutdürstigsten?“ (Wörtlich: das wolfsähnlichste). Und befriedigt stellt er fest, daß die Kinder etwas gelernt haben. Tschükum Tscherum, ein grobgesichtiges, kleines Mädchen, weiß: „Länder, die andere Länder ausbeuten, sind imperialistisch. Sie sind am wolfsähnlichsten.“ Und Koma Lobsang, die Tochter eines Regierungsbeamten, kann es noch besser: „Die amerikanischen Imperialisten unterdrücken die Leute, die im Elend leben. Deshalb sind sie die Wölfe unter den Völkern.“

Der ungarische Kommunist Imre Patko, der im August 1956 nach Tibet kam, gibt in seinem Buch „Tibet“ sehr realistische Schilderungen vom Leben dieses seltsamen Landes. Er konnte es sich leisten, denn alle Fragen schienen 1956 gelöst. Die Jugend war in kommunistischen Schulen, das politische Leben war total von der Kommunistischen Partei und dem chinesischen Militär kontrolliert, die wehrfähigen Tibeter wurden seit 1952 systematisch in die chinesische Volksarmee eingegliedert, von Chinesen ausgebildet und von Chinesen geführt. Zügige Parolen warben um die Sympathie der Tibeter. Ihre politischen und religiösen Einrichtungen sollten im Grundsätzlichen unangetastet bleiben. Hatte doch Mao Tse-tung selbst versprochen: „Alles, was jetzt besteht, soll nur zum Besseren, nicht aber zum Schlechteren verändert werden.“ Zum Besseren, das hieß Gleichberechtigung der Frau, Hebung der Landwirtschaft, Erforschung und Erschließung der Bodenschätze, Bau von Schulen, Ausbau des Gesundheitswesens. Und das hieß Land für die große Masse des Volkes, die bis dahin für die Klöster oder für adelige Grundherren arbeiten mußte. Die 3000 Klöster mit ihren 300.000 Mönchen allein besaßen ja mehr als zwei Drittel des Ackerbodens. Tibet schien wirklich den von China diktierten Weg in die neue Zeit beschreiten zu wollen. Um so mehr horchte die Welt im Frühjahr 1959 auf, als die Kunde von den blutigen Ereignissen in Lhasa über den Himalaja drang. Die Nachrichten über kleinere Aufstände, die immer wieder im Lande aufgeflackert waren, hatte man nicht ernst genommen. Nun aber schlug sich der Dalai-Lama selbst zu den Freiheitskämpfern. Im ganzen Land flammte der Kampf auf, Panzer rollten durrh

SKANDL SVD.

foiS j .fc .nsftaJlrbstJisnB j.sIebJ? Iß* JbdienämtBßs sriaifttafbmrw. s'idi, ni 89 die Straßen Lhasas, Fliegerbomben fielen 'uf den Potalapalast, berühmte alte Klöstet wurden zu Ruinen. >

War der Aufstand von 1959 aber wirklich nur die Abschiedsvorstellung der weichenden Oberschicht? Die Nachrichten der letzten Tage und Wochen sprechen eine andere Sprache. Tibetische Einheiten der chinesischen Volksarmee meutern. In den einzelnen Landesteilen sollen schwere Kämpfe im Gang sein, besonders in Saka. In diesen Gebieten an der nepalesischen Grenze war es bis jetzt immer ruhig gewesen. In Schekardzong, einem Bezirkshauptort am Fuß des Mount Everest, konnten die Aufständischen anscheinend sogar die ganze chinesische Garnison aufreiben.

Offiziell ist das Problem zwar gelöst. Die Lösung heißt ganz einfach Autonomie. Und die Minderheiten gaben sich anfangs mit der Hoffnung auf eine gewisse Selbständigkeit gern zufrieden. Doch bald stellte sich heraus, was Peking unter Autonomie verstand. Es ging nur darum, daß man die Lehren des Kommunismus nun in der Muttersprache eingetrichtert bekam.

In Tibet sind nach offiziellen Angaben Pekings 1,3 Millionen Tibeter. 1,7 Millionen leben in den chinesischen Nachbarprovinzen, in Tsinghai, Sikang und Kansu. Freilich ist diese seltsame Aufspaltung nicht erst ein Werk der letzten Jahre, sondern das Abbröckeln der Randgebiete begann schon vor Jahrhunderten. Der Machtbereich des Dalai-Lama umfaßte 1950 nach den großzügigsten Schätzungen etwa 1,217.000 Quadratkilometer. Das geschlossene Siedlungsgebiet der Tibeter aber hat eine Flächenausdehnung von rund 2 Millionen Quadratkilometern.

Man sollte glauben, daß dieses Land wenig Anreize für Eroberungsgelüste bietet. Und dennoch war Tibet im Laufe seiner Geschichte nicht nur einmal umkämpft. Schon vor 4000 Jahren trafen hier kleinasiatische Nomaden auf die tungiden Prototibeter. Um zirka 800 v. Chr. kamen im Zuge einer umfassenden Völkerbewegung, der sogenannten Pontischen Wanderung, auch Gruppen aus Europa bis nach Zentraltibet. Und durch alle Jahrhunderte hin mußte sich Tibet gegen Chinesen und Turk-völker, gegen Araber und Inder verteidigen.

An die Kämpfe der ältesten Zeit erinnern Heldenlieder. Die eigentliche, beglaubigte Geschichte des Landes Tibet beginnt mit Srong-btsan-sg-m-po (620 bis 469). Er vereinigte alle Stämme, er gründete die Hauptstadt Lhasa, er machte sein Land zu einer Großmacht. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts stand Tibet am Gipfelpunkt seiner Macht. Große Teile Westchinas, Indiens und Ostturkestans gehörten zum Großtibetischen Reich.

Doch immer stärker wuchs der Druck Chinas, und 1750 wurde Tibet chinesisches Protektorat. Nach dem ersten Weltkrieg gelang es dem Dalai-Lama Thub-bstan-rgya-mtsho zwar, die tatsächliche Unabhängigkeit seines Landes zu erringen. Aber 1951 marschierte die Armee Rotchinas in Tibet ein. Und Lhasa wich der Gewalt. Denn Mao Tse-tung versprach ja, daß die alten Rechte der Tibeter niemals gekürzt werden sollten.

Die ersten Jahre waren wirklich erträglich. China baute zwar Militärflugplätze und legte strategische Straßen und Bahnlinien an, ließ die Tibeter aber vorläufig noch ziemlich in Ruhe. Ja, es konnte sogar vorkommen, daß bei diesen Arbeiten Einheimische besser bezahlt wurden als Chinesen. Und die Versprechungen der chinesischen Kommunisten ließen den Himmel auf Erden erhoffen. Aber es blieb bei Versprechungen. Die Bodenreform begann damit, daß den Tibetern Land genommen und dieses an die chinesischen Soldaten verteilt wurde. Jedem von ihnen standen zwei Hektar zu, sobald er demobilisiert war. Die Steuern für tibetische Bauern dagegen stiegen ins Untragbare. Der ganze Ernteertrag mußte praktisch den Chinesen abgeliefert werden.

Durch den starken Zustrom von Chinesen kam es zu ernsten Versorgungsschwierigkeiten. Die Preise für Lebensmittel stiegen sprunghaft. Fleisch war 1956 fünfmal so teuer wie 1950, Salz achtmal so teuer. Und auch die Butter, das Hauptnahrungsmittel, stieg um das Vierfache im Preis.

Die zugewanderten Chinesen nahmen selbstverständlich die ersten Plätze für sich in Anspruch. Sie stellten zum Großteil den Lehrkörper der neuerrichteten Schulen; und Imre Patko schreibt über sie den köstlichen Satz: „Die meisten chinesischen Lehrer haben bereits Tibetisch gelernt oder sind gerade dabei, es zu lernen.“ Sie stellten aber auch alle Spitzenfunktionäre und Aufseher. Daß so ein Aufseher seinen tibetischen Arbeitern, die sich bis zum letzten Einsatz ihrer Kräfte mühen mußten, dagß fisbjjf&iiqhü mwii<die HäJftßuvdesrwkargen KoHöktiylohnes aushändigte, war an ier Tages-ordittfng. nllndnadsEv/AÄfsehen^kariDiiSicklldabei noch als Wohltäter vor. Denn ihm war ja gesagt worden, daß die Tibeter früher von ihren Feudalherren überhaupt keine Bezahlung bekommen hätten.

Möglich, daß trotz all dieser Schikanen die Rechnung Mao Tse-tungs aufgegangen wäre, hätte es in Tibet nur die gesellschaftliche Gliederung Lhasas gegeben mit Feudalherren und an den Boden gebundenen Bauern. So aber sind die meisten Tibeter Viehzüchternomaden. Und gerade bei diesen Nomaden rief der Druck, der besonders nach der ungarischen Volkserhebung und nach dem kurzen „Frühling der hundert Blumen“ wieder einsetzte, spontane Abwehrreaktion hervor. Als Rotchina dann auch in das überkommene religiöse Leben Tibets eingriff, war das Maß voll. Denn Religion ist die Grundlage der tibetischen Gesellschaft. Das von der Religion gespeiste innere Leben bedeutet dem tibetischen Volk weit mehr als c;e von draußen aufgezwungene Reform, auch wenn mit dieser Reform gesellschaftliche und wirtschaftliche Fortschritte verbunden wären. „Für uns ist Religion alles“, erklärt der tibetische Bauer Yisi Nangasa auf die Fragen Patkos. „Selbst wenn wir es jetzt schwer haben und den Klöstern viel zahlen müssen, was macht das schon. Wir werden nach dem Tode belohnt werden. Wir leben durch unsere Religion, tnd wir sind fest entschlossen, an ihr festzuhalten.“

Doch ging Chinas Rechnung in Tibet wirklich nicht auf? Zwar machte der Weg der kleinen Schritte und der „Reform mit friedlichen Mitteln“, die Mao forderte, den Kommunismus in Tibet nicht beliebter. Aber jetzt ist Rotchina auf die Sympathie der Bewohner des „Daches der Welt“ nicht mehr angewiesen. Jetzt verfügt es über Straßen und Bahnen, um den militärischen Nachschub zu gewährleisten. Jetzt sind die Flugstützpunkte fertig, die für die Überwachung des baumlosen Hochlandes einfach unerläßlich scheinen. Jetzt strömen Hunderttausende von Ov'nesen ins Land. Gerüchte wollen wissen, daß Peking fürs erste fünf Millionen chinesische Siedler nach Tibet schicken wird. Wenn das zutrifft, geht ein altes Volk dem Ende seiner Geschichte entgegen. Und der erbitterte Partisanenkrieg, der heute in Tibet wütet, ist dann wahrscheinlich der Todeskampf der tibetischen Nation.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung