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Lösung aus dem Bann der Täuschung

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Die letzten Tage - wie haben wir sie erlebt? Im Februar war der Offizierslehrgang auf der Artillerieschule in Pommern durch den Einbruch der Sowjets jäh unterbrochen worden. Ein Spähtruppunternehmen - das einzige infanteristische für den Artilleristen - endete mit einer leichten Verwundung. Sie brachte die Bettung aus dem Kessel. Drei Wochen Lazarettaufenthalt im Emsland, dann Tage der Fahrt über ständig unterbrochenen Eisenbahnstrecken bis zum Ersatztruppenteil in Garmisch und nach wenigen Tagen schon - Ende März - die Kommandierung zum Abschluß des Kurses, der inzwischen nach Pilsen verlegt worden war. Hier machten bereits tschechische Partisanen die Gegend .unsicher.

War uns bewußt, daß wir hier in einer Luftblase saßen, zu der das Großdeutsche Beich zusammengeschrumpft war? Der tägliche Wehrmachtsbericht ließ keinen Zweifel -aber berührte er uns noch innerlich?

Waren wir schon so apathisch geworden? Worüber sprachen wir? Berührte uns der Untergang dessen, woran viele von uns noch bis zum Schluß geglaubt hatten, gar nicht mehr? Ein Loch in der Erinnerung. Daß zu dieser Zeit die Sowjets in Wien, die Amerikaner in Kitzbühel standen - wir lasen es. W7ollten wir es nicht wahrhaben?

Endlich, am 30. April bei der Abteilung und Stunden später als vorgeschobener Beobachter an der front, bei Odrau im einstigen Öster-reichisch-Schlesien. Zwei Tage vorher hatte sich der Batterietrupp geschlossen „abgesetzt”.

.Und in der Nacht dann die Lautsprecher von „drüben”, die riefen : „Gitler kapuut - Gitler kapuut!” Am nächsten Tag bei der Batterie die letzte Nummer des „Völkischen Beobachters” schwarz umrandet, „Der Führer gefallen”. Wir wußten noch nichts von den letzten Tagen im Führerbunker der Beichskanzlei, von Hitlers Selbstmord. Aber selbst

wenn sein Tod durch Feindeinwirkung erfolgt wäre, wäre es für uns Selbstmord, Flucht aus der Verantwortung gewesen.

Dann sickerte durch: Heute wird kapituliert! In der Nacht zum 9. Mai wurde es amtlich - und alle Bande, die die Truppe noch zusammengehalten hatten, fielen ab. So schnell wie möglich nach Westen, zu den Amerikanern, bevor die Bussen zumachen! Das war in der Gegend von Olmütz. Den Tag über, 9. Mai 1945, der Versuch, mit dem PKW der Abteilung nach Westen durchzukommen - 150 Kilometer. Bei Deutsch-Brod kam das Ende an einer sowjetischen Straßensperre. Ein Steifschuß über den Bücken - der Fahrer neben mir war tot.

Aus! Aus? Werden die Bolschewiken uns nicht sofort umlegen, die Offiziere zuerst? „Tschassidawai!” Die Uhr war auf jeden Fall weg. Mehr wollten sie von uns nicht -umso mehr dafür von den Nachrichtenhelferinnen und Rotkreuz-

Schwestern, die sich zwischen uns zu verbergen suchten ...

Die erste Nacht nach Kriegsende, auf blanker Erde in den Mantel gehüllt, die Schuhe zusammengebunden unter dem Kopf, damit sie kein „Kamerad” stehle...

Dann tauchte einer auf mit rotweiß-roter Fahne, rief auf, die Österreicher zu sammeln für den Marsch nach Wien. Sie würden als erste entlassen, versprach er - wer hatte ihm das zugesichert? Skepsis, Ablehnung, nicht nur bei den deutschen Kameraden. Auch wir brauchten noch Jahre, um uns an den Gedanken an ein unabhängiges Österreich zu gewöhnen, um uns zu einem Bekenntnis zu ihm durchzuringen.

Jahre der Gefangenschaft - für uns waren es „nur” zweieinhalb. Verlorene Jahre? Wohl doch nicht. Sie waren notwendig, um uns lösen zu können aus dem Bann der Täuschung, der wir erlegen waren. Um zu uns selbst zu kommen.

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