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Löwin und Harnisch

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DER SCHUHREISENDE PITELLI, der im Simpionexpreß seiner Nachbarin eben die Verdienste von Enrico Mattei, des Präsidenten des „Ente Nazionale Idrocarburi”, hervorgehoben hat und dabei „II Giorno” wie die Trikolore schwenkte, dieser temperamentvolle Herr mußte sich als Gegenleistung erklären lassen, warum dieses Jahr weniger Oesterreicher nach Italien gekommen wären. „Eine gelenkte Propaganda , sagte die aus Berlin stammende Dame. „Oesterreich neigt sehr zum Osten.” Der Herr wiegte bekümmert seinen Kopf und schielte nach mir, dem schweigsamen Herrn an der Gangecke des Abteils. „Man versteht uns nicht”, sagte er und zog ein abgegriffenes Buch aus seiner Tasche. „Wenn sie uns verstehen wollen, lesen Sie die Bibel des Risorgimento.” Und er rezitierte: „Die Lage des Volkes hat sich nicht gebessert … der Preis der lebensnotwendigen Güter steigt … der Lohn des Arbeiters ist zweifelhaft geworden … Und doch sind in diesen letzten Jahren die Quellen des Reichtums und die Zahl der materiellen Güter gestiegen …” Das waren die Worte des vergangenen Jahrhunderts, aus den „Doveri deH’uomo”, den „Menschenpflichten”, und es hörte sich in der Nacht einigermaßen gespenstisch an. In jener Nacht„ da man wieder von den schwierig gewordenen Landarbeitern der Polesine redete und von allerlei Terrorakten.

DIE EBENE DES PO war einstens ein Arm des Adriatischen Meeres. Das Gebiet, das einige Aehnlich- keit mit Holland hat, umfaßt nur 15 Prozent der Fläche Italiens, beherbergt1 aber 40 Prozent seiner,- BeVölkerurig. Hier liegt der Schwerpunkt der Landwirtschaft und der Industrie. Mailand und Como erzeugen vier Fünftel der gesamten europäischen Seiden. Die Lombarden haben es immer sonderbar gefunden, daß die Hauptstadt Italiens nicht Mailand heißt. Hier sitzt der Spitzenkonzern der Kunstfaserindustrie, „Snia Viscosa”, dessen Export 70 Prozent der Konzernproduktion ausmacht; hier zeigt man den Betonklotz des Verwaltungsgebäudes des größten Unternehmens der italienischen Montan- und Chemieindustrie, die „Societä Generale per l’Industria Mineraria e Chimica”, kurz „Montecatini”, 100 Milliarden Lire Aktienkapital, 200.000 Aktionäre: hier, in Mailand, sitzt auch der Spitzenkonzern der italienischen Autoreifen- und Kabelfabrikation, „Pirelli”, der auch eine beträchtliche ausländische Gruppe einbezieht. Das alles geht ohne I Farbstoffe, ohne Teererzeugnisse, Schwefelsäure, Chlorwasser, Kupferphosphate, Ammoniak und Kal- । ziumkarbid nicht ab. Das macht die Luft bitter. Sie schmeckt beileibe nicht nach südlichen Blüten. Hoch steht nicht der Lorbeer, sondern die Dividende.

MAILAND hat man das „italienische New York” genannt. Irgendwie mag es stimmen — ich kenne New York nicht —, aber es wirkt ein prickelndes Leben in dieser Stadt, die vor 100 Jahren 150.000 Einwohner zählte und heute die zweitgrößte Italiens mit ihren 1,3 Millionen darstellt. (Rechnet man die Vororte dazu, kommt man sogar auf 1,7 Millionen, das ist bald soviel wie Rom!) Die Bevölkerung besitzt alle Eigentümlichkeiten des Norditalieners. Sie ist fleißig, sehr pünktlich, zuweilen etwas eigensinnig und schaut mitunter gerne auf das, was südlich des Po geschieht, mit nachsichtigem Lächeln herab. Um 14.30 LIhr kommt der Mailänder Geschäftsmann in sein Büro zurück und’ erzählt, wie er letzthin in Neapel vor 18 Uhr niemanden angetroffen hat. Daß man dort dann bis in die Nacht hinein arbeitet, sagt er freilich nicht. Das „New York” mitsamt seinen Wolkenkratzern — den „Centro Svizerro” will einem jeder zeigen — hat zuweilen seine Organisationslücken.

Wer dort zur Zeit der größten europäischen Mustermesse unangesagt eintrifft, kann eine interessante Rundfahrt, die recht billig ist, im Taxi durch die Stadt machen, sich mit Hotelportiers und -boys unterhalten, muß aber im Wartesaal 1. Klasse im ledernen Klubsessel oder, wenn es gut geht, auf einem der Diwane schlafen, vorausgesetzt, daß er eine Fahrkarte 1. Klasse hat. Knapp nach 24 Uhr kommt die Kontrolle und befördert die Zweitklassigen aufs Holz. Nun, ein Tausendlireschein tut auch hier Wunder. Die Stadt der Sforza und Visconti ist aber auch die der Cittä degli Studenti, wo ein Teil der höheren Lehranstalten auf einer Fläche von 35.000 Quadratkilometern zusammengefaßt ist. Mailand ist zudem die Stadt des „Quartiere sperimentale T 8”, das die Musterstadt vor morgen darstellen will. Weil gerade von den Bauten die Rede ist: Was die auch blockmäßig angelegten Wohnbauten von unseren städtischen vorteilhaft unterscheidet, ist der Sinn für Gliederung und vor allem — für Farbe. Der Mailänder — wie überhaupt wohl der Italiener — empfindet den Rhythmus der Architektur. Der Himmel und die Landschaft leuchten in sie hinein. Der Mann vor seinem Haus, die Frau auf der Straße gehen im Gespräch sofort aus sich heraus, wenn von den Kindern die Rede ist. Zuerst die Familie, zuerst die Kinder, das meiste für sie. Darnach kommen die Kirche und die Politik. Vom Geschäft spricht man Fremden gegenüber weniger. Die Politik — nun, das Blut kann hitzig aufwallen. Weder am 18. März 1848, als man die Maueranschläge „Morte ai Te- deschi” anbrachte und österreichische Soldaten umbrachte, noch Ende April 1945 legte man sich besondere Zügel an. Piazalle Loreto, wo sich die Volkswut an Mussolinis Leichnam austobte, könnte davon erzählen.

DRÜBEN IN TURIN liegen die großen Fiat- Werke. In Monza fragt man weniger nach der mystischen „eisernen Krone der Lombardei”, als nach der berühmten Autorennbahn, wie viele Stürze es das letztemal gegeben hat und wie hoch der Rundenrekord gegenwärtig steht. Unter dem Baldachin des Altars im Dom aber hat man für allfällig historisch Belastete eine Kopie ausgestellt — von jener Krone, mit der die Kaiser des Mittelalters zu Königen von Italien gekrönt wurden, jene Krone, die Napoleon 1805 trug, jene Krone, von der die Legende berichtet, daß der eiserne Innenstreifen des goldenen Reifens aus einem Nagel des Kreuzes Christi stamme. Aber gegenwärtig sind die Maschinenfabriken und die Stahlwerke. Von Tradate an bis Varese ist man der Quelle der Reklame auf Wiener Plakaten einer Schuhfirma auf der Spur, in Cantü den Möbeln, in Gorgonzola dem Käse, in Cremona den Geigenbauern und in Lodi, wo Napoleon 1796 gegen die Oesterreicher schlug, keineswegs der zisal- pinischen Republik, sondern dem Methangas, das länger vorhalten dürfte als jene Republik.

ÜBER DEN LOMBARDISCHEN HIMMEL sagte Manzoni: „Quando ė bello, quanto ė bello.” — „Wenn er schön ist, wie schön ist er!” Vor dem Blau liegt dann eine hauchzarte Silberschicht, deren Flimmern dem Auge, das ohne Sonnenbrille zu lange hineinstarrt, bald Schmerzen verursacht, und dem Kopf dann bald nicht minder. Der verlangt dann über kurz oder lang Marburger Mischpulver, die man aber stilgemäß nicht mit Wasser, sondern mit dem roten Barbacarlo hinunterspült. Dieser hintergründig blaue Himmel ist freilich nicht mehr jener vor hundert Jahren, als die „Doveri dell’uomo” durch die Lande flogen. Der Himmel ist in Sektoren geteilt und dutzende Riesenfinger ragen über die Kanäle und Maulbeerbäume: das sind die Leitungen der Hochspannung, die Masten mit ihren ausgebreiteteq Armen. Aber man braucht nur die Mühe nicht scheuen und einige Minuten seitwärts stapfen, durch Baumwipfel die Drähte verdecken lassen, und man hört den ewigen Wind, Vogellieder, und spürt das Weben der großen Ebene, die soviel Blut getrunken hat.

DIE „LÖWIN ITALIENS” - so heißt bei den Patrioten noch immer Brescia wegen ihres Widerstandes während der „Dieci giorni” gegen Haynau, dessen Name man bei den Studenten noch heute mit Haß nennt. „Reden wir nicht davon”, sagt der Techniker Filippo, der in einer Waffenfabrik arbeitet. „Aber solange man Waffen erzeugt, wird das Vergessen schwerfallen”, entgegne ich, Tortelli knabbernd, indes Filippo sein ausgiebigeres „Stufato di manzo” (ein gulaschähnliches Gericht) verzehrt. „Friedensfabriken haben wir eben noch keine”, sagt darauf mit vollem Munde Filippo. „Höchstens Konferenzfabriken.” Und wo er recht hat. hat er recht. In einem der Höfe des Broletto, wo jetzt die Präfektur und die Provinzialverwaltung haust, schläft auf einer großformatigen Zeitung ein Mann. Ich schaue nach dem Datum. Es ist vom gleichen Tage. Den Mann beunruhigen die Zeitläufe ersichtlich nicht.

ZWISCHEN DESENZANO UND PESCHIERA greift die lombardische Tiefebene mit einer nahezu eine Wegstunde langen Halbinsel in den Gardasee hinaus. Gartensee hieß er einst, wie Riya im 18. Jahrhundert noclr Sankt Reif genannt wurde. Dort, bei Sirmione, mögen irgendwo in der Erde die Steinreste der Villa Catulls liegen, der den Ort begrüßte: „0 Sirmione, Augenstern du unter den Inseln.” Wenn man am Vormittag vorbeikommt, liegt die Wasserfläche in einem zauberhaft bläulichen Dunst, viel schöner als die gestochene Klarheit der allüberall protzenden Ansichtskarten. Auch Dante hat den antiken „Lacus Benacus” in seiner „Göttlichen Komödie” besungen, Dante, der Peschiera als „schönen und starken Harnisch, der die Bergamasker in Schach hält”, angesprochen hat. Peschiera ist ein selten gewordenes Beispiel, wie sogar in der geschäftigen Lombardei die Zeit langsameres Schrittmaß annimmt. Noch sieht man überall die alten Festungswerke. Die Kraftfahrer, deren Ziel der See oder Verona sind, zeigen sich über die versteinte Geschichte wenig erfreut, denn die Durchfahrt durch die engen Torbögen der Werke erfordert große Aufmerksamkeit. Hier in der Umgebung soll es gewesen sein, wo Papst Leo I. den Hunnen unter Attila entgegentrat. Der Nachmittag ist still, die sinkende Sonne wirft lange Schatten. In einem Haustor sitzt eine alte Frau und hält ein Kind auf dem Arm. Das zerfurchte Gesicht blickt ins glatte und lächelt.

Aus einem Garten klingt Lauten- cpiel.

NOVARA liegt schon in Piemont. 45 Minuten für 52 Kilometer mit dem dampfenden Direttissimi. Man kommt auf einem im Umbau begriffenen Bahnhof einer Industriestadt an, die gegenwärtig rund 73.000 Einwohner hat und sich in starkem Aufschwung befindet. Zur Zeit Radetzkys hatte der Platz 15.000 Einwohner. Novara und Radetzky! Man muß eine halbe Stunde südöstlich auf der Straße gehen, dann kommt man nach Bicocca, das am 23. März 1849 eine solche Rolle gespielt hat, daß es in die Geschichte eingegangen ist. Ein Ruhmestag der österreichischen Armee!

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