6766601-1968_37_12.jpg
Digital In Arbeit

LOOS AUF REISEN

Werbung
Werbung
Werbung

Die riesige Reisetasche aus Sohlenleder war sicher bereits mehr als dreißig Jahre alt. Sie hatte Loos auf allen seinen wichtigen Reisen begleitet. Natürlich war sie schon sehr schmutzig, aber sonst war alles an ihr tadellos, keine Naht war geplatzt, kein Riemen abgerissen. Neben meinem noch ganz neuen Legėkoffer sah sie wie ein alter Patriarch aus. Und dann besaß Loos noch eine Krokodilledertaeche. Sie war etwas kleiner als der Lederkoffer, aber für eine Krokodiltasche war sie sehr groß. Auf kleinen Reisen genügte sie völlig für uns beide. Sie war mehr als ein Koffer, sie war sozusagen ein Familienmitglied.

Es war im März 1920. Ich hatte soeben ein Gastspiel in München, im Ballett der Münchner Kammerspiele, beendet. Als ich nach der letzten Vorstellung ins Hotel tarn, saß Loos

mitten im Zimmer. Er war gerade aus Wien angekommen, hatte noch Hut und Mantel an und die beiden Reisetaschen standen neben ihm. Meine Freude war groß wie meine Überraschung, denn ich sollte am nächsten Tag nach Wien zurückfahren. Aber Loos erklärte: „Morgen mußt du dir das französische Visum verschaffen. Wir fahren nach Paris.“

Wir reisten damals mit tschechischen Pässen, da Loos in Brünn geboren war. Während ich mein Gastspiel in München absolvierte, war ein junger Mann, M. Berque, aus Paris nach Wien gekommen. Sein Vater war Champagneragent, aber der Sohn führte eine Kunsthandlung. Er hatte Loos aufgesucht und ihn eingeladen, nach Paris zu kommen und ein Haus für seine Eltern zu bauen. Zumindest wollte er vorläufig die Pläne bestellen. Loos willigte sofort ein, und da keine Zeit blieb, mich zu verständigen, fuhr er direkt nach München, um mich zu holen. Und da saß er nun, mit seinen zwei Lederkoffern, mitten im Zimmer und teilte mir seine Pläne mit. — „Wieviel Geld hast du erspart?“ fragte er mich. Ich sparte immer sehr, wenn ich auf Gastspiel war. Loos war mit dem Resultat zufrieden. „Ich habe alles einkassiert, was man mir schuldig war“, sagte er. „Wenn wir sparsam sind, können wir eine wunderschöne Reise machen.“

Loos war ein Packkünstler. In der Krokodiltasche hatte er alle seine persönlichen Sachen untergebracht Aber die große Sohlenäedertasche war vollkommen leer. Am nächsten Vormittag besorgten wir das französische Visum für mich. Am Nachmittag nahm Loos die leere Ledertasche und ging aus. Als er nach drei Stunden zurückkam, war der Koffer zum Bersten voll. In Wien gab es noch sehr wenig zu essen, aber in Deutschland hatte es immer Konserven gegeben, und Loos brachte den Koffer gefüllt mit Büchsen zurück: Bohnen mit Speck, Speck mit Bohnen und so weiter. Loos meinte: „Ich will, daß du die ganze Schweiz kennenlernst. Wir fahren über den Bodensee und dann durch die Schweiz nach Paris. Gib mir dein ganzes Geld.“

Das war unsere erste gemeinsame Reise. Wir untertiahmen später noch viele Reisen, und immer fuhren wir 3. oder

4. Klasse und meistens nachts, um Hatelkosten zu ersparen. Niemals nahmen wir einen Träger und schleppten stets unser zahlreiches Gepäck selbst. Wir betraten nie einen Speisewagen, aßen Brot und Schokolade oder Äpfel oder sonst irgend etwas.

Während der Fahrt zum Bodensee hielt mir Loos seinen ersten Vortrag über das Reisen. „Die Wiener sind alle Trottel“, behauptete er, „sie können nicht reisen. In Monte Carlo gehen sie in die teuersten Luxushotels, die für die reichen Amerikaner gebaut wurden und sind ärmer als der Liftboy. Natürlich reicht ihr Geld nur für eine Woche Aufenthalt, und wenn sie wegfahren, haben sie nichts gesehen. Ich will, daß du lernst, wie ein armer Österreicher reisen soll.“

Wir fuhren also mit unseren zahlreichen Koffern, darunter auch meinen Kostümkoffem, über den herrlichen Bodesee und weiter nach St. Gallen. In vielen Orten hatte Loos Bekannte, und wir machten große Umwege, um diese zu besuchen. Aber meistens waren sie abwesend, auf Reisen oder in einem Sanatorium; aber wir hatten wenigstens den Ort kennengelemt. Abends suchten wir stets das kleinste, billigste Hotel, und Loos hielt folgende Ansprache an den Portier: „Wir sind arme Österreicher, geben Sie uns das billigste Zimmer, das Sie haben.“ Und, o Wunder, immer gab man uns das billigste Zimmer, und immer war es sauber. „Natürlich“, meinte Loos, „wenn man kommt und. irgendein Zimmer verlangt, zeigen sie einem das teuerste. Aber so wissen sie gleich, wie sie dran sind und sind noch dankbar, weil sie keine Zeit verlieren.“ Nachher ging er mit ein oder zwei Konservenbüchsen in die Küche und sagte zum Koch: „Wir sind arme Österreicher und können in kein Restaurant gehen, bitte wären Sie so liebenswürdig, und würden Sie uns diese Büchsen öffnen und wärmen?" Dann kam er mit den geöffneten Büchsen, mit Brot und Besteck ins Zimmer zurück und das Festmahl begann. Wenn mir das Essen nicht schmeckte, war er sehr böse, und ich mußte alles auf essen.

Tatsächlich realsten wir durch die ganze Schweiz, die deutsche und die französische Schweiz. In Zürich besuchten wir Freunde, wo wir uns einige Tage von den Bohnen erholen konnten. Als wir in Montreux ankamen, war es bereits Nacht. Loos wollte unbedingt, daß ich am nächsten Tag den „Dent du Midi“ sehen sollte. Aber der Morgen war sehr bewölkt. Loos war verzweifelt, denn unser Zug nach Paris fuhr um zwei Uhr nachmittag ab. Alles hing davon ab, ob die Wolkendecke aufreißen würde oder nicht. Wir standen am Seeufer

und starrten in den Himmel. Und wirklich, eine Minute bevor wir zum Zug mußten, zerrissen die Wolken und ich sah den „Dent du Midi“. „Komm“, sagte Loos und 'schleppte mich zum Bahnhof.

In Paris fanden wir sofort viele Freunde. Vor allem George Berque mit seiner Familie, dann unseren Presseattache Paul Zifferer, der mir sofort ein Engagement ins Theatre de l'Oeuvre verschaffte, wo damals Lugne-Poe herrschte. Ich gab vier Tanzalbende in diesem Theater; der Verdienst war sehr gering, aber Paris ist wichtig für jeden Künstler. Loos fand alte Freunde aus der Vorkriegszeit wieder, George Besson, Direktor der „Cahiers d'Aujourdhui“, Leon Werth, Andres Jourdan; außerdem trafen wir Darius Milhaud, Francis Poulenc, Jean Wiener, Le Corbusier und viele andere, die ich vielleicht aufzuzählen vergessen halbe. In Paris verwöhnten uns alle, wir waren ununterbrochen einge- laden. Loos führte mich in den Cirque Medrano, um mir die Fratellinis zu zeigen. Wir gingen ins Casino de Paris, um Mistinguette und ihre neueste Entdeckung, Maurice Chevalier, zu sehen. Wir besuchten den Louvre und das Museum du Luxembourg, wir gingen auf den Champs-Elysees spazieren und (lachten gemeinsam mit den Kindern über den Guignol. Man führte uns zu Prunier — ich aß nur Kaviar und trank Chateau d'Yquem — und in die Tour d'Argent, um die berühmte Ente zu kosten. Wir sahen alles, Notre-Dame, les Invalides, die Madeleine, die Brillanten in der Rue de la Paix, das Pantheon. Manchmal liefen wir allein auf der Ile de la Cite spazieren, nur um die Seine recht nahezu haben. Bald war ich in Paris zu Hause.

Loos fuhr auf ein paar Tage zu Bessie in die Schweiz und dann trafen wir uns in Zürich wieder. In Zürich stießen wir auf das Ballett der Wiener Staatsoper, das gerade ein Gastspiel beendete. Sie hatten einen eigenen Zug gemietet und luden uns ein, mit ihnen zurückzufahren. So machten wir eine lange und gemütliche Reise. Lange, weil wir, als wir die Schweizer Grenze passiert hatten, sofort ohne Maschine blieben und unsere Waggons nur hie und da an irgendeinen Zug angehängt wurden. Gemütlich, weil mich alle Tanzlehrer kannten, und ich ihnen und ihren Frauen half, die Wiener Ballettkinder zu betreuen. Die Reise von der Grenze bis nach Wien dauerte ungefähr fünf Tage, alber sie war gratis. Es waren uns noch einige Konserven geblieben, und wir aßen sie unterwegs. So kamen wir glücklich nach Hause.

Ich hatte also geleimt, wie arme Österreicher reisen müssen. Aber noch etwas anderes hatte ich dazugelemt. Ich lernte Adolf Loos kennen: Adolf Loos auf Reisen. Er unter-

schied sich ganz bedeutend von meinem Mann aus Wien, an den ich gewöhnt war. In Wien war das Leben, wenn auch immer interessant, so doch auch gemütlich. Auf Reisen war Loos unerbittlich in jeder Beziehung. Er, der keine Müdigkeit kannte, erlaubte auch mir weder Müdigkeit noch Unlust zu irgendeiner seiner Unternehmungen. Auf Reisen interessierte er sich weder besonders fürs Schlafen noch fürs Essen. Ich gewöhnte mich an die harten Holzbänke der 3. Klasse, auf denen wir die Nächte in den Zügen zubrachten. Ich gewöhnte mich an die schmutzigen Pariser Hotels. Ich gewöhnte mich an das Kofferschleppen und an die schrecklichen Leute, die wir meistens als Reisegefährten hatten. Ich sah, wie wichtig es für Loos war, aus Wien herauskommen zu können, und hütete jeden Centime. Ich stand verzaubert vor den Pariser Auslagen, aber nie konnte ich mir auch nur ein Taschentuch kaufen. Wir waren eben arme Österreicher. Obwohl Paris eine großartige Stadt ist, fühlte ich mich nie glücklich in ihr. Als wir nach unserer langen Reise durch die ganze Schweiz endlich in Paris eintrafen und in einem unglaublich schmutzigen Hotel ein Zimmer nahmen, warf Loos rasch unsere Koffer ins Zimmer und sagte: „Komm sofort mit, damit ich dir noch heute Nacht die Boulevards zeigen kann.“ Es war bereits spät nachts, und ich war schmutzig und müde, alber es half mir nichts, ich mußte mit. Wir gingen über den Boulevard des Capucines, der taghell erleuchtet war und so voll von Menschen, alle lachten, alle waren gut aufgelegt. Ich aber spürte die lange Reise in den Knochen und die vielen Bohnen im Magen, und plötzlich blieb ich stehen und fing laut zu weinen an. Ich wollte nach Hause. Ich fühlte mich wie ein Dirndl vom Land unter all diesen Siegern. Loos sah mich an und verstand mich nicht. Es war das erste Mal, daß er mich nicht verstand. Aber er führte mich ins Hotel und trachtete mich zu beruhigen. Er verstand schließlich, daß meine Nerven überspannt waren und ließ mich ausruhen. Aber er konnte nicht begreifen, wie man in Paris weinen konnte.

Wie oft denke ich an diesen ersten Abend in Parts! Ich war so unglücklich, als ob ich vorausfühlte, daß diese Stadt mir eines Tages Loos rauben würde!

Am nächsten Tag begann unser Pariser Leben, Besuche, Besprechungen, Rendezvous mit allen möglichen Leuten. Ich mußte überall mitgehen, denn ich war seine Dolmetscherin. Loos sprach nicht Französisch und konnte es wegen seiner Schwerhörigkeit auch nicht mehr erlernen. Wir hatten keine freie Minute, aber die Leute waren so lieb und freundlich, daß mir die Dolmetscherei Freude bereitete. Außerdem lernte ich viele Dinge in Paris, die man in Wien nicht lernen kann. Ich lernte Austern, Schnecken und Artischocken essen, ich lernte, nicht zu erschrecken, wenn ich nackte Frauenkörper auf der Bühne sah. Aber es gab auch viele Sachen, die ich nie erlernen konnte und nie erlernte. Jedoch während dieses ersten Besuches war von ihnen noch nicht die Rede.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung