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Lücken melodramatisch gefüllt

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Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird in Fachkreisen über Sabina Spielrein (1885-1941) diskutiert. In den Protokollen der „Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft bei Prof. Freud" scheint sie 1911/12 in der Anwesenheitsliste auf, kommt bei Diskussionen und einmal auch mit einem interessanten Referat zu Wort. Vor drei Jahren erschien in Amerika die Monographie „Eine höchst gefährliche Methode. Freud, Jung und Sabina Spielrein" des Analytikers John Kerr und alsbald auch eine deutsche Ausgabe. Und nun erschien „Sabina", Untertitel: „Sabina Spielrein -Der Roman ihres Lebens", vom angesehenen norwegischen Erzähler Karsten Alnaes. Er hat alle ihm erreichbaren Quellen über Leben und Sterben der jüdischen Russin aus reichem Haus benützt, bis zu ihrem Tod bei der Eroberung von Rostow durch die deutschen Truppen.

Der Autor: „Ich wollte keine Geschichte der Psychiatrie schreiben, und ich habe auch nicht die Ausbildung, die mir das ermöglicht hätte." Da er einen Roman geschrieben habe, bitte er „Leserinnen und Leser, dessen Universum zu erleben".

Die authentischen Nachrichten über die bemerkenswerte Frau sind zahlreich, aber lückenhaft und wurden mit passagenweise melodramatischer Romanphantasie überbrückt. Sabina ist in Rostow aufgewachsen, begann als Halbwüchsige Schwerstens an hysteriformen (oder ähnlichen) Symptomen zu laborieren, und das Jahre hindurch. Eltern und Ärzte wußten sich nicht zu helfen, einer gab schließlich den Rat, es mit einer Kur in der berühmten Schweizer Nerven-Heilanstalt Burghölzli zu versuchen, wo Professor Bleuler mit neuen Methoden arbeite. 1904 brachte man die Kranke nach Zürich, und Bleuler teil-tesie dem besonders engagierten, jung verheirateten Psychiater Carl Gustav Jung zu.

Der ging mit unendlicher Geduld daran, Sabina aus ihrem pathologischen Schweigen zu erwecken. Allmählich erwacht die Neunzehnjährige aus ihrer Umnachtung, allerdings in leidenschaftlicher Liebe zu ihrem Therapeuten. Man kennt die Situation samt Folgen ungefähr, keineswegs jedoch genau: aus Tagebuchaufzeichnungen Sabinas, aus der Korrespondenz Jungs mit Freud, den er um ärztlichen Rat bat, aus vielen späteren Re-urteilungen des Falles. Klar ist aber nur: Sie wurde gesund und liebeskrank und ihre heftigen Gefühle steckten C. G. Jung an. Wie weit er sich hinreißen ließ, weiß man nicht. Die Meinungen gehen weit auseinander. Im Roman wird natürlich die extremste verwendet: Sabina, inzwischen Medizinstudentin, hat in der Nähe eine Wohnung, zu der Jung einen Schlüssel besitzt. Sie verbringen halbe Nächte im Bett, Ehefrau Emma schöpft Verdacht, kommt dahinter und schreibt anonym nach Rostow an die Eltern der Geliebten ihres Gatten. So war es allerdings bestimmt nicht.

Doch der Bruch des reuigen Arztes mit seiner vormaligen Patientin dürfte schroff gewesen sein. Allerdings korrespondierte er noch lange mit ihr. Sie hatte promoviert, war analytisch ausgebildet, heiratete, hatte zwei Töchter, die Familie lebte abwechselnd in europäischen Großstädten und kehrte endlich in die Sowjetunion zurück, wo Sabina erfolgreich praktizierte - später freilich nicht mehr als Psychoanalytikerin, weil die Lehre und ihre Methoden dem Kommunismus suspekt waren.

Sabina Spielreins wissenschaftliche Schriften sind bekannt geworden und sollen C. G. Jung zur Unterscheidung zwischen „Anima" und „Ani-mus" sowie Freud zu seinen Ansichten über den Todestrieb angeregt haben. Zur Erhöhung der Lesespannung wechseln die Abschnitte aus verschiedenen Lebensphasen mit furchtbaren Momentaufnahmen aus dem Todesjahr 1941: Hoffen und Bangen, ob die Deutschen aufgehalten werden können oder nicht. Der makabre Schlußakt, da und dort passiert, ist für das Sterben der Roman-heldin nicht belegt: Ein SS-Kommando zwingt die Juden, sich im winterlichen Schneetreiben nackt auszuziehen. So müssen sie die Nacht auf dem Hauptplatz der Stadt verbringen und werden erst am Morgen mit Maschinengewehren umgebracht.

Die besten Teile des Romans behandeln das Ringen des leidenschaftlich bemühten Arztes C. G. Jung, die Starre der jungen Frau aufzubrechen, und den von beiden zu spät beachteten Übergang von der Dankbarkeit zur heftigen Liebe.

SABINA

Von Karsten Alnaes. Ubersetzung: Gabriele Haefs Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1996 )60 Seiten, geb., öS 336,-

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