Lügen als Weg zur Wahrheit

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In seinem neuen Roman entlarvt José Saramago die Phrasen der Politik und die Fragilität der Demokratie und träumt von der Vernunft der Wähler.

Erzählen kann er, der 84-jährige portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago, immer noch - und immer noch mit viel ironischem Augenzwinkern und politischem Engagement. Damit hat er auch seinen neuen Roman "Die Stadt der Sehenden" (wörtlich übersetzt: "Versuch über die Klarheit") gewürzt.

Nett schon die Szene zu Beginn: die Wahlhelfer im Wahllokal Nummer vierzehn sitzen und warten. Der Himmel hat seine Schleusen geöffnet und Regen und Wahlbeteiligung verhalten sich verkehrt proportional. Was heißt: die Wähler der Hauptstadt bleiben aus. "Sosehr der Wahlvorsteher und die Wahlhelfer auch die einzelnen Schritte der Wahl in die Länge zogen, es wollte sich einfach keine Schlange bilden, es waren höchstens drei bis vier Personen, die anstehen mussten, und aus drei bis vier Personen lässt sich, sosehr diese sich auch anstrengen, nie im Leben eine Schlange bilden, die diesen Namen auch verdient."

Eine Verschwörung?

Dann plötzlich, nachmittags um vier: die Wähler strömen, die lang ersehnten Schlangen bilden sich. Mysteriös wie dieses Ereignis erscheint das Ergebnis der Wahl: die gültigen Stimmen machen nicht einmal 25 Prozent aus, über 70 Prozent haben weiß gewählt, ein Phänomen, "dem ein namhafter Fachmann bereits den unbarmherzigen Namen politisch-soziale Teratologie gegeben hat". Auch eine Neuwahl "bereits am nächsten Sonntag, Gottes Wille geschehe, denn dafür hat man ihn schließlich", bringt - bei Sonnenschein - kein besseres Ergebnis und macht die Parteien regierungsunfähig und fassungslos. War das abgesprochen? Gibt es eine Verschwörung? Aus dem Mund des Premierministers hört man bekannte Worte, "das Vaterland sei Opfer eines schändlichen Anschlags auf die Grundfesten der parlamentarischen Demokratie geworden". Die Minister strotzen vor Ahnungslosigkeit, was das Volk betrifft, das sie regieren sollen, wittern - statt kritische Selbstanalyse zu betreiben - lieber Terrorismus (von außen? von innen?) und die Maßnahmen, die sie ergreifen, sind entsprechend drastisch. "Sie hatten nach Sauberkeit verlangt, die sollten sie nun bekommen." Schon wird das Recht der Bürger, nämlich weiß zu wählen, mit Füßen getreten.

Rechte missachtet

Es beginnt mit dem Abhören und ebenso absurd-komischen wie die politische Paranoia entlarvenden Analysen von unbedeutenden Sätzen und banalen Kommentaren wie: "Was für ein schöner Morgen, Es sieht fast so aus, als sei er mit Absicht so gemacht, Eines Tages musste es so kommen {...} Dennoch musste man keinen Doktor in Verdachtsfragen, kein Diplom in Misstrauensangelegenheiten haben, um aus den letzten beiden Sätzen etwas Ungewöhnliches herauszuhören." Bespitzelung und Verhöre bleiben ohne brauchbare Ergebnisse, denn: "die Menschen gelten allgemein als die einzigen Lebewesen, die imstande sind zu lügen, wobei sie dies nachweislich aus Angst oder Eigennutz tun, manchmal jedoch auch, weil sie rechtzeitig erkannt haben, dass es der einzige Weg zur Verteidigung der Wahrheit ist."

Schließlich ruft die Regierung den Belagerungszustand ihrer eigenen Hauptstadt aus, zieht ab und überlässt die Stadt sich selbst. Diese "Stadt ohne Gesetz" treibt aber wider Erwarten keine kriminellen Blüten. Im Gegenteil, auch ohne Polizei geht alles friedlich seinen Gang, zur Verwirrung der aus der Stadt ausgezogenen Regierung ebenso wie der mancher Rezensenten.

"Und man weiß nicht so recht, ob man dem 1922 geborenen José Saramago nun Schwarzmalerei oder hoffnungslosen Optimismus vorwerfen soll. Oder beides," wurde etwa gefragt und dabei offensichtlich vergessen, das die zu besprechende Lektüre kein Interview des Autors über wahrscheinliche oder mögliche Entwicklungen der Weltpolitik darstellt (und über Saramagos politische Äußerungen konnte und kann man trefflich streiten, keine Frage), sondern einen Roman. Kann man einem Romanautor etwas anderes vorwerfen als schlechtes Handwerk (wenn es denn ein solches wäre)? Ja, wenn nicht einmal mehr die Schriftsteller phantasieren dürfen, wer dann?

Dabei hilft Saramago dem Leser, nicht zu vergessen, in welcher Art von Text er sich befindet. Sein Erzähler kommentiert, wie man es von Saramago gewohnt ist, selbstironisch das Geschehen, das er in der Hand hält und an dessen Fäden er vor den Augen des Lesers zieht: "Auf ein solches Was wäre wenn wird man nur schwerlich eine den Leser befriedigende Antwort finden. Außer der Erzähler wäre so ungewöhnlich aufrichtig zuzugeben, dass er sich nie wirklich sicher war, wie er diese einzigartige Geschichte einer Stadt, die beschloss, weiß zu wählen, zu einem guten Ende bringen könnte ..."

Kein politisches Rezept

Hier wird kein politisches Konzept erschrieben (Saramago war entsetzt, als sich Weißwähler in Venezuela auf seinen Roman beriefen), sondern Literatur, eine Art Parabel vielleicht, mag sein. Und trotz der Schablonenhaftigkeit, mit der sie erzählt wird, erinnert vieles an die Wirklichkeit. Saramago hat Jargon und Rollenspiele der Politik mit der ihm eigenen Ironie zusammengegossen - und heraus kommen Gespräche, die an sarkastischem Witz und entlarvendem Irrsinn nichts zu wünschen übrig lassen, der Rest von Inhalt löst sich auf in pathetisch-religiösen Floskeln und vaterländischer Rhetorik. Und der Leser fühlt sich erinnert: hört er, liest sie das nicht beinahe jeden Tag in den Nachrichten, genau so? Immer aus anderen Mündern, aber immer dasselbe?

Saramagos Figuren seien papieren, so lautete ein weiterer Vorwurf. Diese "papierenen" Figuren sprechen aber Bände: der Premierminister, der Innenminister, der Justizminister, sie alle spielen ihre Rollen im Spiel der Demokratie (letzterer eine zu kleine und bald gar keine mehr). Diese Rollen sind täglich erlebbar, die Menschen dahinter täglich austauschbar. Ganz bewusst und nicht aus Mangel an Phantasie (derer hat er genug) stattet Saramago seinen Roman nicht mit Interieur aus. Auch der Ort bleibt undefiniert. Es könnte in Portugal passieren ebenso wie in Österreich, in Indien wie in Amerika. Oder anders: es könnte in allen Demokratien passieren, wo auch immer Politiker sich nicht um ihre Wähler scheren. Allerdings bekommt Portugal quasi im Vorübergehen einen ironischen Hieb verpasst ...

Wie ein Kriminalroman

Leser, denen so etwas zu papieren scheint, können sich über den zweiten Teil des Romans freuen. Da entfaltet Saramago eine Art Kriminalromanparodie. "Heute, da die Blitze den Befehlen des Herrn nicht mehr blind gehorchen, gehen sie nur noch dort nieder, wo sie wollen, und wir mussten erkennen, dass mit ihnen nicht zu rechnen ist, wenn es darum geht, die sündige Stadt des Weißwählens auf den rechten Weg zurückzuführen. Stattdessen hat das Innenministerium drei seiner Erzengel geschickt, die Polizisten, die wir hier sehen, einen Chef und zwei Untergebene, die wir von nun an, entsprechend ihrer Grade in der Diensthierarchie, Kommissar, Polizeihauptmeister und Polizeimeister nennen werden."

Mit dem Kommissar zoomt der Erzähler eine Person näher heran und man kann zusehen, wie sie ihre Zivilcourage entwickelt. Der Polizist hat den Auftrag, eine Verschwörung, die es gar nicht gibt, zu ermitteln und die Schuld daran auf eine Frau zu laden, die im Roman "Die Stadt der Blinden" bereits eine wichtige Rolle spielte. Seine Weigerung, den Auftrag zu erfüllen, sein Gang an die Medien, um die Machenschaften der Regierung von außen publik zu machen, wird der Polizist teuer bezahlen. Auch die unschuldige Frau kommt nicht ungeschoren davon.

Böszüngige Kommentare

Ungeschoren kommen auch die Leser nicht davon. Denn Saramago hat im Visier seiner unerbittlichen Beobachtungen und böszüngigen Kommentare nicht nur die Politiker an den Hebeln der Macht, sondern auch den einzelnen Erdenbürger: "Nicht selten kommt es vor auf dieser Welt, und zwar in Zeiten, in denen wir blind durchs Leben stolpern, dass wir um die Ecke biegen und mit in der Blüte ihres Lebens stehenden Männern und Frauen zusammenprallen, die früher, als Achtzehnjährige, nicht nur heitere Frühlingspflänzchen waren, sondern vor allem stolze Revoluzzer, wild entschlossen, das System ihrer Eltern niederzureißen und stattdessen das Paradies, nun ja, der Brüderlichkeit zu errichten, sich heute jedoch mit derselben Überzeugung auf Positionen und Verhaltensweisen zurückgezogen haben, die nicht mehr nur dem gemäßigten Konservatismus zuzurechnen sind, der diente nämlich nur zum Aufwärmen, sondern dem rücksichtslosesten, reaktionärsten Egoismus. Etwas weniger umständlich ausgedrückt, diese Männer und Frauen spucken vor dem Spiegel ihres Lebens Tag für Tag dem, was sie einst waren, das, was sie heute sind, ins Gesicht."

Die Stadt der Sehenden

Roman von José Saramago

Deutsch v. Marianne Gareis

Rowohlt Verlag, Reinbek 2006

382 Seiten, geb., e 23,60

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