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Walter Kappachers neuer Roman entfaltet mit betörender Langsamkeit und genauer Wahrnehmung eine Utopie vom "anderen Leben", die nicht vereinnahmt.

Das Wort "langsam", mit dem der Roman beginnt, ist nicht nur der Schlüssel zu seiner Hauptfigur, dem Lehrer und Schriftsteller Stefan, der Mühe hat mit dem Tempo auf der Autobahn, die er nur in Kauf nimmt, um sein karges Landhaus in der Toskana zu erreichen. Langsamkeit ist auch das Erzählprinzip, das sich realisiert in genauer Beschreibung und wenig Handlung: Heinrich hat in Arezzo den um vieles älteren Heinrich Seiffert kennen gelernt, der ihn eingeladen hat, sein altes Bauernhaus in der Nähe zu bewohnen. Besuche, Gespräche, Stefans Versuch, das Haus vor dem Zerfall zu bewahren, der Schmerz über Heinrichs Tod und das absehbare Ende dieses "anderen Lebens" - viel mehr braucht es nicht, um einen Prosastrom in Gang zu setzen, der seine eigene Welt erschafft.

"Am meisten, sagte er, verblüffe ihn, daß er nie das Gefühl habe, etwas zu versäumen, es gebe nichts Wichtigeres auf der Welt, als die kleineren und größeren Arbeiten am Haus und rundherum, das Kochen ..." - Stefan geht auf in seinen alltäglichen Arbeiten und im Rhythmus von Sonnelicht und Dunkelheit, denn Strom gibt es keinen in dem alten Haus. Eigentlich wollte er an einem Buch arbeiten, und eigentlich sollte er ein Drehbuch für einen Mozart-Film vorbereiten, doch auf einmal ist das alles nicht mehr wichtig. Dafür taucht er ein in ein neues Zeitgefühl und stellt fest, er "vergesse die Zeit".

Keine Naturidylle

Eine beschauliche Naturidylle wird hier freilich nicht als Heilmittel angeboten - schon deswegen, weil gerade dieses einfache Leben nur im Widerstand gegen die Natur möglich ist, die Haus und Weg überwuchern will. Hier wird auch nicht Einfachheit gefeiert - da darf man sich von Peter Handkes Lob auf Kappacher am Buchumschlag nicht abschrecken lassen: Kappacher stellt die Einfachheit nicht, wie Handke, feierlich aus, sondern setzt den Rhythmus des Alltäglichen mit selbstverständlicher Leichtigkeit sprachlich um. Subtil beschreibt er auch den Prozess der Gewöhnung: wie das "Urvertrauen der ersten Nächte" einer nüchternen Gefahrenabwägung Platz macht und die Faszination des Dahintappens in nächtlicher Dunkelheit verloren geht - das ist der Preis dafür, dass er kein Fremder mehr ist, sondern im zweiten Sommer von den Einheimischen als einer gegrüßt wird, der hierher gehört.

Denn nicht nur der Blick in den Sternenhimmel oder die genaue sinnliche Wahrnehmung - das "Luftschmecken" etwa - gehören zu dem "anderen Leben", das Stefan hier möglich wird, sondern auch der Umgang mit den wenigen Nachbarn; dass er sich hier mehr zuhause fühlt als in seiner Heimatstadt Salzburg, hat etwas zu tun "mit dem Einander-gelten-Lassen der Menschen".

Ein besonderer Ort und eine besondere Zeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit geben dem Roman ihre Farbe. Er greift zurück auf die Aufzeichnungen aus der Toskana, die Kappacher 1988 unter dem Titel "Cerreto" in einem nicht mehr existenten Salzburger Kleinverlag veröffentlicht hat; indem er sie einbettet in die neue Figurenkonstellation, erweist sich nicht nur der bleibende Wert des Jahrzehnte zurückliegenden autobiografischen Erlebens, sondern auch der des fast zwei Jahrzehnte alten Textes. Dass die Romangegenwart im Jahr 1987 angesiedelt ist, ist auch ein Votum für den Wert der Erinnerung. Wie lächerlich der Umbau eines alten Dorfes bei Florenz in ein "Ferienparadies" schon damals war, lässt einen vor den Grotesken von heute erst recht erblassen.

Dem Ende ins Auge sehen

Eine besondere Zeit ist nur zu haben um den Preis ihres Endes. Strommasten und Bautrupps bedrohen den Gegenentwurf des Landhauslebens von Stefan, Heinrichs Tod setzt ihm ein Ende. Nicht in dem banalen Sinn, dass der Mann seiner Cousine Selina das Erbe verkaufen will, sondern weil der wichtigste Reflexions- und Gesprächspartner, dem Stefan etwas von seinen Erfahrungen mitteilen konnte, nicht mehr ist. "Dahin gelangen: dem Nichts unerschrocken ins Auge blicken können" oder wie Jean Paul, "der als Satiriker begonnen und der Aufklärung nahe gestanden hatte", besessen sein "von der Idee eines Weiterlebens nach dem Tod" - dass diese Frage mit keiner Antwort zugekleistert ist, zeigt einmal mehr, wie der Leser hier nicht vereinnahmt wird.

Wo Utopien proklamiert werden, ist Vorsicht geboten - ideologisch und literarisch. Doch wo "das andere Leben" ohne den Anspruch auf Endgültigkeit so unprätentiös zur Sprache kommt wie bei Kappacher, wird die Alternative "bewohnbar" mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen und Lesen zu einem unabgeschlossenen Prozess von heilsamer Langsamkeit. Wer sich nicht einlässt auf dieses Tempo, bringt sich um viel.

Selina oder Das andere Leben

Roman von Walter Kappacher

Deuticke Verlag, Wien 2005

255 Seiten, geb., e 20,50

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