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Digital In Arbeit

Mädchen in der Fabrik

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I.

„Ich dachte die erste Zeit, ich müßte wahnsinnig werden." „Abends tun mir meine Beine so weh, daß ich kaum stehen kann.“ „Ich hab’ gar nicht gewußt, daß es so große Fabriken gibt.“ „Wenn ich durchs Labor geh’, pfeifen die Arbeiter hinter mir her." Das sind Sätze aus dem Mund junger Fabrikarbeiterinnen, die mit rund 15 Jahren „in den Produktionsprozeß eingereiht" wurden. In einer hochindustrialisierten Mengengesellschaft ist es an sich nicht nötig (siehe LISA und UdSSR), daß Kinder mit 15 Jahren bereits erwerbstätig sind, denn die Berufsarbeit überfordert sie, ist gesundheitsschädigend und auf lange Sicht der ganzen Gesellschaft abträglich. Besonders das junge Mädchen wird durch zu frühzeitige Berufsarbeit körperlich und seelisch überlastet. Der plötzliche Uebergang von der Schule in die Arbeitswelt ist eine kritische Zeit, besonders für die Vierzehnjährigen. Sie sind keine Kinder mehr, aber auch noch nicht fähig, selbständig mit allem, was ihnen begegnet, fertigzuwerden; ihnen fehlt noch das Koordinatensystem, in das sie ihre Erlebnisse einreihen könnten. Der Uebergang in eine Welt, die zudem eine männliche ist, ist zu abrupt, zu bedrängend, als daß er schadlos überstanden werden könnte. Ueber die körperlichen Schäden junger Fabrikarbeiterinnen warten die Betriebsärzte mit nüchternen Zahlen auf. Die seelischen Gefährdungen werden nicht in Statistiken sichtbar, sie sind aber darum nicht geringer als die körperlichen.

Die Entscheidung für den Beruf wird sehr oft nicht ernsthaft erwogen, auch von den Eltern nicht. Ihre Einstellung ist meist die: „Warum sich den Kopf zerbrechen, das Mädchen heiratet jp sowieso.“ Freilich ist in vielen Fällen eine Arbeiter- oder Angestelltenfamilie gar nicht in der Lage, bei mehreren Kindern ihre Schulentlassenen noch länger zu unterstützen. Als billigste Berufsarbeit bietet sich die nahegelegene Fabrik an. Vielen Eltern wieder — keineswegs den' 'ÜrifiStéW’ i 'Iíann dää K¥rid‘i’ntchbí’S81liiíéII genug mit dem Lohnsackerl-nach Hause kommen. Häufig werden’ Frauen und’ Madche'ft’ auch von der Industrie nur als Objekt behandelt: einmal braucht man sie, einmal schickt man sie heim — je nach der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Begabung zu fördern, ihre Interessen zu wecken, lohnt sich nicht.

II.

Ist das junge Mädchen, gestern noch Schülerin — heute Arbeiterin, überhaupt vorbereitet auf die Fabrik? Durch den Vater oder die Brüder hat sie ja nicht einmal einen Vorgeschmack bekommen. Zu Hause wurde selten berichtet, wie das Leben jenseits des großen Fabriktores aus-

schaut, allenfalls durfte sie einmal den Vater abholen gehen.

Diese moderne Welt ist vom Geist der Erwachsenen durchdrungen. Alle Erscheinungen, die der junge Mensch kennenlernt, sind von der Verhaltensweise Erwachsener geprägt. So steht das Mädchen, körperlich und geistig unreif, aber als Erwachsener behandelt, über Nacht in einer heißen, lärmenden Halle, ohne Orientierungshilfe, ohne Ordnungsmaßstäbe. Keinesfalls hat sie immer im Elternhaus oder in einer festen kirchlichen Bindung pädagogischen Halt. Nie hat man darauf Rücksicht genommen, daß Maschinen von Frauen bedient werden. Sie wurden von Männern für Männer konstruiert. Man hat nicht bedacht, daß etwa die Frau im Durchschnitt zehn Zentimeter kleiner ist, über eine geringere Griffweite verfügt und daß etwa für sie die Sitze zu hoch gebaut sind. Die monotone Arbeit greift die Frau mehr an, sie ermüdet schneller, verfügt sie doch nur über etwa ein Drittel der männlichen Muskelkraft. Sie besitzt weniger Blutkörperchen, ihr Sauerstoffvorrat verbraucht sich rascher. Aus all . dem erklärt sich die höhere LInfallsziffer bei den Arbeiterinnen. Der Arbeitstakt in der Fabrik ist vom jugendlichen Lebensrhythmus sehr verschieden, die Arbeit „spurlos". Tiefgreifende Umstellungen ihrer Gefühle und Wahrnehmungen verändern tiefgreifend die Lebensrhythmen. Das Auge wird bald zum wesentlichen Sinnesorgan: schauen und schalten, mit schnellem Blick das Wesentliche erfassen können. Die moderne industrielle Arbeitsform ist durch und durch rational, zweckbedingt und einlinig, sie verlangt und fördert das wache, aktiv reagierende Bewußtsein, ist fast nie schöpferischer Vorgang. In ihr kann die Frau ihre wesensmäßigen Kennzeichen fast niemals zur Geltung bringen. In der eigenen natürlichen Reife gehemmt, wird sie von der technischen Welt geformt und verformt. Typische Verhaltensweisen stellen sich ein. Die Neigungen aus den noch- sehr nahen Kinderjahren beherrschen’ sie zwar weiter, die NeigüWg zur Nachahmung',’'' deir:Wurrieh erwachsen; zu ein, wirtLmScbTigr; Es werden Freizeitvergnügen gewählt, die ihnen das Gefühl geben, erwachsen zu sein; Die Imitation der Erwachsenen nimmt aber oft groteske Formen an. Der junge Mensch, eine Entwicklungsstufe überspringend, wird ein „primitiver Erwachsener". Offenbar wird der Mangel gar nicht bemerkt. Erst wenn sie selbst Eltern sind. Dann ist es zu spät. In ihrer typischen Ausprägung ähneln junge Fabrikarbeiterinnen einander sehr: sie sind ungemein nüchtern und realistisch, vorwiegend materiell eingestellt.“ (Wir dürfen nicht übersehen, daß die billige. Literatur, Kino und Tanz für ihren Seelenhaushalt als Mimikry notwendig sind.) Sie-besitzen starke Zu sammengehörigkeitsgefühle, sind untereinander, trotz aller Zänkereien, sehr kameradschaftlich und solidarisch — sie sind in ihrer weiblichsexuellen Ausstrahlung nicht zu übersehen. Neben der Monotonie, der Unübersichtlichkeit der Großfabrik sind es vor allem menschliche Unzulänglichkeiten und Versehen, die der jungen Fabrikarbeiterin das Leben schwer machen: ein barscher, oft vulgärer Umgangston, plumpe Vertraulichkeit, die Preisgabe fast aller Reservate. Mit dem Thema „Mann" wird die junge Fabrikarbeiterin in einer so zynischen und groben Weise in Berührung gebracht wie keine andere Mädchengruppe unserer Gesellschaft (Eva Otto). Was Betriebsärzte, Betriebsfürsorgerinnen zu erzählen wissen, ist ,einfach haarsträubend. Dem Außenstehenden ist diese Welt überhaupt verschlossen, eine flüchtige Berührung würde ihm nur ein falsches Bild vermitteln. Wenn irgendwo im Saal ein dreckiger Lacher krepiert, sagte ein Werkmeister, dann weiß ich, das Thema Nr. 1 war gerade am Tapet. Nicht verschwiegen werden soll hingegen das offenbar große Ausmaß an Schwangerschaftsunterbrechungen - unten? ihnen. Ueber diese Dinge pflegt in Arbeitssälfen rrritrüberwiegend weiblicher; Belegschaft;;frappie-'! rend offen gesprochen zu werden. Die Fünfzehnjährigen werden Ohrenzeugen von sexuellen Gesprächen, die ihrem Alter keineswegs entsprechen. Versucht jemand mahnend (oder pseudo-mahnend) einzugreifen („Verderbt’s ma net die Kinder!“), erntet er offenen Hohn. Im kollektiven Zusammenleben-führen ja meist die Primitiven das große Wort. Genug. Wer mehr davon wissen will, greife zum Buch von Kroeber- Keneth: „Frau unter Männern“ (Econ-Verlag).

III.

Im Buch „Die junge Arbeiterin" (Juventute- Verlag) finden sich, gewonnen aus dem Einblick in diese Welt über das frühe sexuelle Wissen, folgende Sätze:

Diese Diskrepanz zwischen Halbwissen und Tatsachenverdrängung, zwischen leid- vollem Erfahren und inkonsequentem Verharren im gewohnten Lauf von Arbeit, Schlaf und Genuß, das beinahe fahrlässige Hineingleiten in die Doppelbelastung als Arbeiterin und

Ehefrau, das halb berechnete, halb leichtsinnige Einsetzen des eigenen Körpers in Arbeit und Sexualität verleiht dem Bilde der hier untersuchten Menschengruppe alarmierende Züge.“

Ein Blick auf die Statistik zeigt deutlich, wie sehr Oesterreich mit der Frau als Arbeiterin rechnet. 35,1 Prozent aller Oesterreicherinnen sind berufstätig. Wir stehen mit 1,267.919 weiblichen Berufstätigen nach Finnland an der Spitze aller Länder: 474.031 Frauen werden von der Statistik (1951) als „Arbeiter" bezeichnet.

Allein in Wien sind es etwa 150.000.

IV

Jeder Mensch verbringt den entscheidenden

Teil seines Lebens an seiner Arbeitsstelle, in seinem Beruf. Für die junge Fabrikarbeiterin wäre daher eine nebenberufliche Betreuung als Entgelt für die entgangenen Bildungsmöglichkeiten ein Ausgleich, eine handfeste Lebenshilfe. Es gibt eine Menge Maßnahmen, die der Reifung und geistigen wie sozialen Befreiung der Jugend dienen. Das Ideal bliebe allerdings eine verlängerte Schulpflicht etwa bis zum Höchstalter von 18 Jahren. Sie wird nie Wirklichkeit werden. Das Eigentliche freilich läßt sich nicht durch Betreuung erreichen. Denn in der industrialisierten Welt gibt es nichts, an dem sich der Mensch, besonders der junge, seelisch und geistig aufrichten und begeistern könnte. Nach Feierabend wechselt er von der Produkte schaffenden Industrie in die Vergnügungsindustrie über. Warum? Das junge Mädchen kam in die Fabrik als ein Wesen voller Impulse und Reaktionsbereitschaften, das nur darauf wartete, mit Inhalten und Antrieben erfüllt zu werden — am Ende steht ein junger Mensch, der der Industriewelt so eingeordnet ist, daß Antriebe, die ihm selbst entspringen, nicht mehr zum Zuge kommen: Sie ist nün reine Arbeitskraft im Betrieb und reiner Konsument in der Freizeit mit einem stark reduzierten und fremdbestimmten Lebensinhalt. Die Industriewelt, wie sie ist, hat die junge Arbeiterin gezwungen, sich selbst fremd zu werden — ein Zustand, den sie manchmal dunkel ahnt. Die Jugendliche, die einen Arbeitstag lang unfrei ist, folgt dann am Feierabend den übermächtigen Reizattrappen der Reklame und der Propaganda. Mechanisierung des Vergnügens und Mechanisierung der Arbeit gehen Hand in Hand. Wie soll sie. die während der Arbeit immer nur in Teilbereichen des Menschseins angesprochen wird, nie als Lln- geteilter verlangt wird, nun durch den Wechsel der Kulissen ihre Individualität zurückgewinnen?

Sie sitzt im Gefängnis der Zivilisation, aus dem sie nur ein Ausweg rettet, ein geistiger Vorgang: bewußte Selbstdisziplin, Selbst kontrolle, Selbstbescheidung. Dazu bedarf es einer besonderen Spannkraft, eines Elans von innen her. Aber das alles sind unpopuläre Dinge . . .

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