6736584-1966_22_24.jpg
Digital In Arbeit

Männer in blauen Turbanen

Werbung
Werbung
Werbung

AMRITSAR, DIE HEILIGE STADT DER SIKH, liegt in der Nordwestecke Indiens, am Rande des östlichen Punjabs, der bei der großen Teilung im Jahre 1947 Indien zufiel. Bis zur pakistanischen Grenze ist es kaum mehr als ein Katzensprung, und Lahore — auf der anderen Seite — die alte punjabische Stadt, ist nicht weit.

I gerichteten Vorwurf „Kapitulation vor einer separatistischen Bewegung” von den Straßen verschwunden, aber alle Hindus wiederholen ihn bei jeder nur halbwegs passenden Gelegenheit. Auf diese Weise lebt der Antagonismus weiter, der seit mehr alsvier Jahrhunderten zwischen den Sikhs, auf der einen und den Hindus und Muselmanen auf der anderen Seite existiert. Seit der Gründung der Sekte liefern sich Sikhs, Hindus und Muselmanen einen gnadenlosen Krieg.

Dabei sollte die neue Religion nach dem Willen ihres Gründers, des ersten Guru Nanak Chaud, gleichzeitig synthetisch und humanitär sein und Muselmanen und Hindus aussöhnen; glauben doch die Sikhs, wie die Muselmanen, an einen Gott, lehnen sie, wie die Muselmanen, den Bilderkult ab, haben sie aus dem Hinduismus die Wiedergeburt übernommen, deren letzte Stufe allerdings der Mensch ist. „Du hast den Vorzug erhalten, Mensch zu sein. Nunmehr ist es an der Zeit, Gott zu treffen”, sagen die heiligen Texte, wie uns ein gelehrter Sikh erklärt.

Bei der Weihe schwört der Jüng- “ ling, die „fünf K” zu achten: „Kesh”: das Vefliut, “das”-Haar zu scheren: „Kangha”: einen Kamm zu tragen: „Kuchha”: eine bestimmte Art von Shorts zu tragen; „Kara”: der metallene Reif, der von nun an sein rechtes Handgelenk ständig umschließt;1 „Kirpan”: der Säbel, der ihn nie verlassen darf. Gleichzeitig erhält erj den Zunamen „Singh”: Löwe, Patro- nym aller seiner Brüder. Er lebt von nun an in der Verehrung der alten Helden, die mit dem Säbel und mit dem Gewehr gegen Eindringlinge und Feinde seiner Religion kämpften. Er kennt die Geschichte der Sikhs und weiß von den zahlreichen Massakern, die zwangsläufig seinen Glauben zu einer kämpferischen Religion Und den letzten Guru zu einem Lehrer des Krieges im 17. Jahrhundert machten.

SEITDEM IST DER KRIEGERISCHE GEIST DER SIKHS, was soviel wie „Schüler” heißt, nie mehr erloschen. In der britischen Zeit stellten sie ein berühmtes Elitekorps, gelten heute als die besten Soldaten der indischen Armee und ausgezeichnete Offiziere. Sie haben sich hervorragend gegen die pakistanischen Einheiten geschlagen, wie gesagt wird, weil ihre Feinde Muselmanen waren und aus Vergeltung für die Teilung des Punjabs im Jahre 1947, die in ein großes Sikh-Massaker und die Flucht von zwei Millionen Sikhs nach Indien ausartete. Das vergißt sich in Amritsar nicht so schnell, zumal die ehrwürdigen Säbel und Lanzen im Goldenen Tempel ständig daran erinnern, wie die Gründer und Lehrer ihren Glauben verteidigten.

Im Punjab leben etwa 6,5 Millionen, im ganzen soll es um die zehn Millionen geben. Krieger von beinahe sagenhaftem Ruf, ist der Sikh

Amritsar ist eine Stadt zahlloser sich windender Gäßchen. In der Mitte des Labyrinths steht der Goldene Tempel. Blaues Wasser plätscherte gegen die Marmorwände eines großen viereckigen Teiches; Gruppen bärtiger Musiker spielten auf großen, gebogenen Trompeten, die wie Drachenköpfe aussehen; Priester stimmen unermüdlich Hymnen an. Männer tanzten auf dem Platz und schwangen Schwerter. Sie hatten allen Grund: Die Regierung in Neu-Delhi hatte endlich der Gründung eines eigenen Sikh-Staa- tes zugestimmt.

Wir zogen die Schuhe und die Strümpfe aus, wuschen die Füße, bedeckten zum Zeichen der Demut den Kopf und betraten ehrerbietig die achttausend Quadratmeter des Tempels. Ein Sikh hielt uns fest und erzählte mit bebender Stimme, die Feinde seiner Religion hätten den großen Guru Fateh Singh lebendig eingemauert. Das geschah schon im 17. Jahrhundert, aber er sprach, als ob es gestern geschehen wäre. Drinnen waren Tausende versammelt. Fast alle trugen blaue Turbane und breite blaue Schärpen; keiner war ohne Bart. Das Bild war fröhlich und schön. Sie sprachen über die schweren Unruhen, die von fanatischen Hindus angezettelt worden waren, nachdem der Arbeitsausschuß der Kongreßpartei sich im März für den Sikh-Staat und eine neue Teilung des Punjabs ausgesprochen hatte.

ES WAR ZU Ausschreitungen, Brandstiftungen und heftigen Feuergefechten zwischen Hindus und Siikhs gekommen; die Regierung mußte Militär aufbieten, um die Ruhe wiederherzustellen, und zum ersten Male verstieß Frau Indira Gandhi, die Ministerpräsidentin, gegen jene Regel, die sie sich selbst gestellt hatte, nämlich nie öffentlich vor ausländischen Besuchern innere indische Probleme zu erörtern. Sie konnte sich nicht enthalten, mit dem gerade in Neu-Delhi weilenden jugoslawischen Ministerpräsidenten über die blutigen Unruhen im Punjab zu sprechen. Das ist hier und da mißbilligt worden, aber die ethnischen und religiösen Minderheiten stellen der indischen Regierung ebenso schwere Probleme wie die Ernährung der wimmelnden Massen, und dazu ist sich jeder einsichtige Inder längst darüber klar, daß der Bürgerkrieg brütet. Gerade die Unruhen im Punjab zeigten auf, wie sehr die regionalen, religiösen und sprachlichen Verschiedenheiten den Bestand der Indischen Union ständig bedrohen.

Die Gewalttätigkeit ist im Punjab inzwischen mehr oder weniger abgeflaut, und verantwortungsbewußte Hindu- und Sikh-Führer sind darauf bedacht, jedes neue Aufflackern schon im Keime zu ersticken. Aber die Glut glimmt weiter, und niemand weiß, was sich noch ereigenen kann, wenn erst einmal die Grenzen des neuen Staates endgültig gezogen werden. Zwar sind die großen Banner mit dem an die Zentralregierung auch ein außerordentlich selbstbewußter, regsamer und energischer Mensch der Tat. Ihm sind Passivität und Fatalismus der Hindus und Muselmanen unbekannt, auf die er ein wenig von oben herabsieht. Zusammen mit den Parsen bildet er vielleicht den dynamischesten Bevölkerungsteil Indiens. Er stellt die tüchtigsten Bauern, und man gab uns zu verstehen: „Wären alle indischen Bauern wie die Sikhs, würde es keine Hungersnot geben.” In diesem Land, in dem die Armseligen in ganzen Haufen herumstreifen und Tausende von Händen sich zu einem Almosen entgegenstrecken, trifft man nicht auf einen einzigen Sikh- Bettler. Wenn sie erst einmal ihren eigenen Staat haben, werden sie zweifellos sehr viel Ehrgeiz entwik- keln, um aus ihm ein Musterland zu machen.

„PUNJABI SUBA” WIRD der neue Sikh-Staat heißen. Seine Sprache wird das Punjabi sein. In der ersten Märzhälfte hatte sich der sogenannte Kleine Ausschuß der regierenden Kongreßpartei unter dem Druck der Sikh-Minderheit gegen die Bedenken einflußreicher Hindu-Kreise dafür ausgesprochen. Wie man in Neu- Delhi erzählt, waren die langen Beratungen teilweise sehr stürmisch verlaufen. Die Erregung unter den orthodoxen Hindus über diese Empfehlung, von der sie glauben, sie werde sie den Sikhs ausliefern, war überaus heftig, und die erbitterten Gefechte, die sich Hindus und Sikhs überall im Punjab lieferten, flauten erst ab, als die Zentralregierung Militär einsetzte und die Ministerpräsidentin entschlossen und energisch erklärte: „Ist der Entschluß einmal gefaßt, wird er auch durchgeführt.” Ein paar Tage später gab der Innenminister Nanda im Zentralparlament bekannt, die Regierung habe beschlossen, das Punjab in einen punjabisprechenden und einen hindisprechenden Staat aufzuteilen.

Das Verlangen der Sikhs nach einem eigenen Bundesstaat ist nicht neu. Die Forderung wurde schon vor der Unabhängigkeitserklärung erhoben, aber von Nehru stets mit der Begründung, die Union sei ein laizistischer Staat und religiöse Gründe rechtfertigten keine Sonderstellung, rundweg abgelehnt. Die Sprache hat er nie gelten lassen. Ein Hungerstreik des alten Sikh-Führers Master Tara Singh beeindruckte ihn um so weniger, als das Gerücht umging, der angeblich hungernde Sikh habe doch hie und da Nahrung zu sich genommen. Die Forderung der Siikhs blieb auch bei der nach sprachlichen Erwägungen im Jahre 1956 durchgeführten Umgliederung des Staatsverbandes unerfüllt.

Unter diesen Umständen liegt die Frage nach den Gründen nahe, die Kongreßpartei und Zentralregierung jetzt veranlaßt haben, den Forderungen der Sikhs plötzlich nachzugeben Die indische Armee kann es sich unter den obwaltenden Umständen nicht leisten, auf die Sikhs zu verzichten. Sie braucht sie. Auf der anderen Seite hatte sich die Haltung der Sikhs in den letzten Monaten in besorgniserregender Weise versteift, und es war damit zu rechnen, daß die „Akali”-Partei, die politische Organisation der militanten Sikhs, die ohnehin seit jeher zu extremistischen Lösungen neigt, zur offenen Empörung aufrufen würde, zumal Rivalen um ihre Führung sich schon gegenseitig zu überbieten versuchten. Weil nun niemand weiß, welche Richtung die Bewegung schließlich genommen haben würde, wenn es Delhi nicht gelungen wäre, die gemäßigten Sikh-Kreise für sich zu gewinnen, ist die Zufriedenheit der Regierungskreise über die Lösung des so dornigen Problems durchaus verständlich. Zwar ist es völlig klar, daß die Akalis die Kontrolle über den neuen Staat anstreben, aber in Neu-Delhi hofft man, daß die gemäßigten Sikh-Kreise, deren Anhang nicht unterschätzt werden darf und die auf eine Zustimmung der arbeitenden Bevölkerung jetzt doch rechnen können, ein gewichtiges Wort mitzureden haben werden, wenn es um die Organisation des neuen Staates geht. In Amritsar selbst wird geglaubt, daß der Extremismus auf die Sikhs kaum noch eine große Anziehungskraft haben wird, wenn der Friede einmal völlig wiederhergestellt ist.

und eine Lage im Punjab zu schaffen, die Gefahren in sich birgt.

ES IST WAHRSCHEINLICH, daß nach den Hungerunruhen in Kalkutta, Westbengalen und Kerala, dem für seine Linkstendenzen bekannten Südstaat, die Entstehung eines neuen Unruheherdes befürchtet wurde, der unübersehbare Folgen mit sich bringen konnte, weil das Punjab ja unmittelbar an Pakistan grenzt und vor den Toren der Hauptstadt Neu-Delhi liegt. Es wird auch gesagt, in den Kreisen der Regierung habe man es für sehr wahrscheinlich gehalten, der überaus angesehene Sikh-Führer Sant Fateh Singh werde seine Drohung wahrmachen, sich am Tag des Großen Festes vor dem Goldenen Tempel in Amritsar öffentlich zu verbrennen, wenn bis dahin der geforderte Sikh-Staat nicht zugestanden sei. Nun hätten die Folgen eines solchen in Gegenwart von Hunderttausenden von Menschen durchgeführten freiwilligen Opfertodes unabsehbar sein können, aber es fragt sich doch sehr, ob dieser Umstand, den nicht wenige Hindus als eine Erpressung bezeichnen, für den Entschluß der Regierung tatsächlich ausschlaggebend war. Schwerwiegender dürfte wohl das während des Pakistankrieges den Sikhs gegebene Versprechen des verstorbenen Ministerpräsidenten Shastri gewesen sein, die Regierung werde, „sobald es die Umstände erlauben”, die Forderungen der Sikhs noch einmal wohlwollend prüfen. Kenner der Verhältnisse fassen es dahin zusammen, daß die Regierung, und das heißt auch die Kongreßpartei, keine andere Wahl hatten.

OB DIE KONGRESSPARTEI IM HINBLICK auf die Wahlen im kommenden Jahr gut daran tat, den Beschluß über die Teilung des Punjabs zu fassen, wird sich erst noch herausstellen müssen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß die „Jan Sangh”, eine extremistische Hindupartei, die der Teilung und der Bildung eines Sikh-Staates stets erbitterten Widerstand entgegensetzte und auch bei den jüngsten Unruhen eine maßgebliche Rolle spielte, für sich beträchtlichen Nutzen zieht, zumal der verbleibende Rest des Punjabs kaum lebensfähig ist und schon jetzt in Delhi davon gesprochen wird, ihn vielleicht zwei benachbarten Bundesstaaten zuzuschlagen. Aber bis dahin ist noch Zeit, und der Kongreßpartei hat es an Wendigkeit ja nie gefehlt.

Master Tara Singh saß mit unterschlagenen Beinen unter einem kleinen Baum in einem mit Steinfliesen bedeckten Hof. Er hatte einen breiten weißen Bart und freundliche Augen in einem fröhlichen, faltigen braunen Gesicht. Er trug einen blauen Turban und weiße dünne Baumwollhosen. Er grüßte freundlich und sagte, die Sikhs hätten gewonnen. Er schien unbändig stolz zu sein.

Mit seiner wohlwollenden Billigung veranstalteten unterdessen die Sikhs Amritsars Prozessionen. Sie tanzten durch die engen Gassen, schlugen Trommeln und wirbelten zu der Musik von Blaskapellen. Sie freuten sich wie Kinder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung