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Männliche Caritas

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In der Krypta der früheren Karmeliterkirche zu Paris, jetzt inmitten des Institut Catholique, stehen wir am Grab Ozanams, der vor hundert Jahren, am 8. September 1853, gestorben ist. Rundherum die Gebeine von hunderten, in der Französischen Revolution niedergemetzelten Ordensleuten — diese schaurige Sammlung zerschossener Hirnschalen, nur ein Glied in der Kette des endlosen Klerikermordes. Im 1. Stock desselben Gebäudes die Zelle, an deren Wände auch Josephine Beauharnais ihre Todesangst und Lebenssehnsucht eingeritzt hat. Ein paar Schritte weit das Missionsseminar, in dem soeben die Breviere der verhungerten oder srmordeten Missionare aus China eintreffen. Inmitten dieser erregenden Zeugen ruht Ozanam — einer der wenigen aus dem nach-napoleonischen Akademikeraufbruch, dem es gelungen ist, eine echte, nachwirkende Bewegung aufzurufen. Der Stifter deV V i n z e n z k onferenzen ist es wert, laß wir seinen Anruf aufs neue zur Kenntnis nehmen.

Seift Leben steht zunächst noch unter dem

Druck des Jugendschicksals in der Nachkriegszeit. Gegen Ende eines 25jährigen Krieges (23. April 1813) in Mailand als Sohn eines Arztes geboren, gerät er bald in den Zwang einer Umsiedlung nach Lyon. Immerhin gelingt der Familie der Neuaufbau einer Existenz. Alles um den jungen Menschen beginnt, Bürgerlichkeit und ,Ruhe zu- predigen; nach den Schrecknissen der Revolution und Kriege wird das Dasein verkostet, egozentrisch, starr. Ozanam bleibt nichts anderes übrig, als Musterschüler zu sein; mit 15 Jahren erscheint ein erstes Bänddien sehnsüchtiger Gedichte. Aber er weiß doch um den Sinn dieser Wartezeit:

„Mit zunehmender Geduld halte ich mich still für mich, studiere viel, daÄit ich einmal unter die Menschen treten und ihnen etwas sein kann. Auf einmal sind wir starke Männer voll Mut und Kraft — man wird uns nötig haben!“

Nach zwei Jahren Praktikum in einer Advokaturskanzlei, darf er endlich 1831 zum Studium nach Paris. Er kommt Chateaubriand und Ampere näher. Lacordaire bahnt er durch Vorsprache beim Erzbischof den Weg

zur Kanzel in Notre-Dame. Vor allem wird er hier sozial geweckt:

„In der Provinz plagt man sich nicht mit Denken ab. Ringsum erblickt man industrielles und materielles Leben. Jeder ist nur auf seine persönliche Bequemlichkeit erpicht, und darauf, d*ß es ihm selbst leidlich wohlergeht. Sie leben nicht im Gestern, nicht im Morgen, sie kennen nur das Heute.“

Im Mai 1833 gründet Ozanam mit fünf Freunden die 1. Vinzenzkonferenz, die sich später zu 14.000 Konferenzen mit über 200.000 Mitgliedern ausweiten wird.

„Diese Vereinigung soll sich einzig und allein dem Dienst der Nächstenliebe widmen. Es ist wahrlich an der Zeit, mit dem Wort auch die Tat zu vereinen. Die Lebenskraft unseres Glaubens muß sich in Werken der Liebe erweisen.“

Um der Gefahr genereller Verbürokratisierung zu entgehen, wird die unmittelbare Hilfe im Hausbesuch der persönlich aufgegebenen Familie zur ersten Pflicht des Vinzenzbruders gemacht.

Ozanams wissenschaftliche Laufbahn begann — nach den juristischen Examina (1836) und kurzer Anwaltspraxis in Lyon — im Jahre 1839 mit seinen literaturgeschichtlichen Arbeiten. 1840 wird er Professor für ausländische Sprachen, besonders für mittelalterliche deutsche Literatur, an der Pariser Sorbonne. Nach 40 Jahren wieder die erste Professur eines gläubigen Christen:

„Ich habe nicht die Ehre, Theologe zu sein, aber ich habe das Glück des Glaubens, und empfinde es als meine Ehrenpflicht, meine ganze Seele mit all ihrer Kraft in den Dienst der Wahrheit zu stellen.“

Seine 297 Schriften und größeren Aufsätze muß er wenigen Jahren abringen; bereits 1852 weiß er sich todkrank. Den sich mit großen Plänen tragenden Aktivisten überkommt eine tiefe Traurigkeit, und eine letzte Ruhelosigkeit treibt ihn auf dte Reise durch Frankreich, Spanien, Italien. In Toskana gründet er binnen kurzem sieber. neue Vinzenzkonferenzen. Er veranlaßt die Herausgabe eines monatlichen „Bulletin“. Noch auf dem Schmerzenslager sucht er in der Heiligen Schrift, was ihn trösten kann, und schreibt zitternd auf lose Blätter sein schönstes Werk t- das „Buch für die Kranken“. Dann muß er abschließen:

„Mein Gott — Du willst nichts von dem, was ich Dir anbot. Nach mir selbst verlangst Du. Im Apfang der Schrift steht, daß ich Deinen Willen tun soll, und ich sage gern: Ich komme, o Herr! Und wolltest Du mich für die Tage, die ich noch zu leben habe, an Schmerzen fesseln — sie wären zu kurz, Dir für jene Tage zu danken, die ich gelebt habe. Und diese Zeilen — sind die letzten, die ich jemals schreibe, so sollen sie ein Lobgesang sein auf Deine Güte!“

Am 8. September 1853 ist Ozanam zu Marseille hingeschieden.

Sein Vinzenzwerk blühte ein Jahrhundert weiter. Fast alle großen christlichen Sozialpolitiker Europas sind durch die Schule der Akademischen Vinzenzkonferenz gegangen. Die männliche Caritas war für die letzten Generationen fast ausschließlich im pfarrlichen Vinzenzverein konzentriert. Aber von den Schlägen des zweiten Weltkrieges und der damit ausgelösten Kulturkämpfe scheinen sich die Vinzenzvereinc nicht mehr recht erholen zu können; zwar fand ich noch kürzlich, zum Beispiel in Berlin, blühende Junggruppen vor, aber der Altbestand in der Schweiz und noch mehr in Oesterreich schrumpft immer bedenklicher zusammen. Damit ist zunächst ein organisatorisches Problem angedeutet; die kirch-

liehen Richtlinien sowohl zum diözesanen Aufbau der Caritas wie zur ständischen Gliederung innerhalb der Katholischen Aktion haben sich bekanntlich gegen das Vereinsprinzip ausgesprochen, und auch an den Hochschulen ist die sozial-karitative Initiative auf den Studentenseelsorger und seine Hochschulgemeinde übergegangen. Grundsätzlich muß aber doch wohl festgehalten werden: die Caritas der Kirche hat niemals auf die freier gegliederten Fachgruppen verzichten können und wird auch heute nicht in einer organisatorischen Uniformität erstarren wollen! Ebenso wie die Ordenscaritas wird auch der karitative Fachverband seine Existenzberechtigung behalten.

Im Zeichen Ozanams geht es aber auch um ein noch tiefer reichendes Anliegen: das der personellen N a c h w u c h s k r i s e im Sozialbereich! Noch gibt es fünf Viertel Millionen katholische Ordensschwestern, aber ihr Nachwuchs ist auf ein Fünftel des Vorkriegsbestandes abgesunken. Den 1026 weltlichen männlichen Krankenpflegekräften stehen in Oesterreich nur mehr 33 geistliche Krankenpfleger gegenüber. Selbst im weltlichen Sektor wird das Feld weithin von weiblich Sozialberufen beherrscht. Abgesehen von wenigen Männern aus dem Laienstande, die der Caritas in verantwortungsvollen Stellungen zur Verfügung stehen, fehlen die Männer vor allem in den örtlichen Gliederungen der kirchlichen Liebestätigkeit. Nicht einmal in die Reihen der Ruheständler ist ein Einbruch gelungen, und unser Wiener „Diakonat für alternde Menschen“ muß mit weiblichen Mithelfern auskommen. Es ist verständlich: die Reihen der Männer sind durch die Kriege dezimiert, die Härte des modernen Berufslebens hat sie müde gemacht und abgestumpft, die Ueberbeanspruchung durch Staat, Politik und Gesellschaft läßt vor sozialen Engagements zurückschrecken, und das Ressentiment der Enttäuschten zersetzt neugebildete Verantwortungszellen. Schließlich ist die Vorherrschaft der Frau im sozial-karitativen Wirkbereich naturgemäß, und die Kirche wird gut daran tun, ihre Seelsorge gegenüber den weiblichen Sozialberufen nur

noch intensiver zu gestalten. Aber es kann kein Zweifel sein, daß die Frau auch 'hierin zu einer gewissen Einseitigkeit neigen könnte: im Hang zur Domestizierung wird sie die Formen der geschlossenen Fürsorge (Anstalt) betonen, im eigenen Erleben ihrer Lebensgeborgenheit zum hauptamtlichen Sozialberuf hindrängen, in ihrem Konservativismus die Tendenz zur Bürokratie und Kartei bestärken, als Reaktion auf ihre persönliche Opferbereitschaft stärker unter den Enttäuschungen über Mißerfolge und Leerläufe leiden. Es muß auch hier betont werden, daß die weiblichen Sozialberufe untereinander noch nicht recht sich zusammenfanden und teilweise in ihrer Entwicklung führungslos steckengeblieben oder gewerkschaftlichen Losungen erlegen sind.

Jedenfalls braucht die Caritas den männlichen Mitarbeiter. Von ihm erwarten wir uns weniger ein Plus von Organisationen und Rationalisierung, Finanz und Geschäft, Sozialpolitik und Verstaat-lichungsfreudigkeitj kämpferischer Note und gefährlicher Verflachung in der christlichen Liebestätigkeit. Wohl aber erhoffen wir uns von ihm: klare Grundsatztreue, große Linie, redliche Auseinandersetzung, Bildung öffentlicher Meinung, Ueberwindung der Bürokratie, Wille zur Unmittelbarkeit und Durchschlagskraft der Soforthilfen, Verlebendigung des Ehrenamtlichen und Bereitung einer echten Volkscaritas. Nur Männer, die durch die Srfiule karitativer Praxis gegangen sind, werden imstande sein, die starrgewördenen Positionen im Fürsorgebereich christlich aufzulockern, die Sozialversicherung aus ihrer tragischen Fehlentwicklung zu lösen, eine echte Fämilienhilfe aufzubauen, und in die Arbeit für die Volksgesundung wieder klare Grundsätze einzubringen. Wie so oft schon in der Geschichte der Caritas — wird auch heute die Verlebendigung im Sondergebiet der Liebestätigkeit eine Gesamtbereicherung des kirchlichen Lebens vermitteln. Die Internationale Caritaskonferenz (Rom) tut recht daran, ihre besondere Aufmerksamkeit der Reaktivierung männlicher Caritas zuzuwenden!

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