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Märchen als politische Satire?

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LJUBIMOW. Roman von Abrain Ter*. Deutsch von Lotte Stuart. Mit 14 Zeichnungen von Rudolf Angerer. Faul-Zsninay-Verlag. 240 Seiten. S 99.—.

Durch den Moskauer Schriftstellerprozeß zu Beginn vorigen Jahres ist das Buch „Ljubimow“ von Andrej Sinjawski zu trauriger Berühmtheit gelangt. Er und sein Kollege Julij Daniel, der unter dem Pseudonym Nikolai Arschak Essays und Artikel im Ausland publizierte, wurden zu sieben beziehungsweise fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach der Lektüre des vorliegenden Buches, des einzigen „Romans“, der eigentlich ein phantastisches Märchen mit satirischer Tendenz ist, erscheint dieses Urteil unverständlich. Denn was Terz hier zusammenfabuliert, fällt zwar aus dem Rahmen linientreu-genormter Literatur beträchtlich heraus, ist aber keineswegs bösartig und kann auch von westlichen Lesern nicht als Verleumdung der Sowjetunion mißverstanden werden. Hat man dort doch schon ganz andere, viel schärfere und konkretere Kritiken „verkraftet“. Es müssen also noch andere Publikationen von Terz (die wir nicht zu Gesicht bekommen haben) zu seiner Verurteilung geführt haben.

Denn was sich in Ljubimow ereignet, einem Städtchen wie viele andere in der großen UdSSR, eher unbedeutend, kn Flachland liegend, ohne Eisenbahn und Industrie, doch nicht ohne Komsomolzen, die üblichen Funktionäre und eine dünne Intellektuellenschicht, hat Terz nicht ohne liebenswürdige, wenn auch oft satirische Züge erzählt, vor allem aber ist das Ganze, die Personen und ihre Aktionen, in eine so skurril-phantastische Sphäre entrückt, daß kaum Anlaß zu staatspolitischer Entrüstung besteht. Der Leser lächelt, schmunzelt und unterhält sich gut, obwohl er sich's, mit ein wenig Phantasie und einigen Kenntnissen über das alte und das neue Rußland, in einem solchen Krähwinkel nicht viel anders vorgestellt hat.

Da wird zum Beispiel, gleich zu Beginn, eine Maifeier geschildert, mit Militärmusik, Aufmärschen, Reden und Fahnen, natürlich fehlen auch die Milizionäre nicht, die wachsam nach allen Seiten schauen, „damit sich keine Trunkenbolde aus früheren Zeiten auf den Platz schleichen und durch ihr heruntergekommenes Aussehen die internationale Demonstration stören können. Dann bewegt sich das Volk über den Wolodarskij-Prospekt zum Zentrum: „Voran marschieren die Kinder in weißen Hemdchen, eines trägt ein Fähnchen, ein anderes eine Papierlaterne, und wieder eines hat gar nichts, sondern geht so vor sich hin, schwitzt nicht und knabbert an einem Kandis oder Lebkuchen und schmiert sich dabei seine glücklichen roten Bäckchen voll... Hinter den Kindern wanken ein paar Werktätige sowie die Post- und Telegra-phenärbeiter, und dabei haben sie vom Lande noch zwei Lastwagen hergelotst, die gesteckt voll sind mit Kolchosmädchen ...“ Tout comme chez nous, so wie auch wir's vom 1. Mai kennen...

Aber an diesem Tag geschieht das Unerwartet-Merkwürdige: der

Parteisekretär Genosse Semjon Gawrilowitsch Tischtschenko dankt ohne jeden äußeren Zwang ab und übergibt sein Amt dem Chefmechaniker Leonid Iwanowitsch Ticho-mirow, kurz Ljonja genannt. Ohne äußeren Zwang, wohl aber unter dem Einfluß schwarzer Magie, im doppelten Sinn des Wortes. Da war nämlich kurz vor diesem 1. Mai nach Ljubimow als Fremdsprachen-lehrerin eine Leningraderin gekommen, eine Intellektuelle, schwarzhaarig und hübsch, hochnäsig-unnahbar und eine Halbjüdin noch dazu. Maupassant und andere westliche Autoren in der Volksbibliothek genügen ihr nicht, sie verlangt Bücher von Hemingway und Feuchtwanger. Ihrem Einfluß und Ehrgeiz verfällt unser braver Mechaniker Ljonja, der barfuß in seinen ausgelatschten Sandalen und im blauen Arbeitsanzug durch den Ort geht. Um Sera-flma Pjeotrowna Kosiowa ebenbürtig zu sein, beginnt Tichomirow fieberhaft zu lesen. Dabei kommt ihm auch ein aus dem Indischen übersetztes Buch über den „psychischen Magnetismus“ in die Hände, in dem erklärt wird, wie man zu Einfluß im Leben und über seine Mitmenschen gelangen kann, und da Ljonja überdies herausfindet, daß diese Geheimlehre auch mit der Theorie von Engels übereinstimmt (der den Primat des Geistes über die Materie proklamierte), zögert er nicht, seine neugewonnenen Geisteskräfte spielen zu lassen und ihr Ergebnis — die totale Herrschaft über Ljubimow — seiner Angebeteten, der „kleine Heldentaten nicht imponieren“, zu Füßen zu legen.

Nun herrscht er also über Ljubimow, verwandelt das Wasser des Flusses in Champagner, verwirklicht die echte, totale Gütergemeinschaft und damit den Kommunismus, mit dem es andernorts zu langsam vorwärts geht, obwohl das ganze Land sich dafür abrackert. Hier wird ein uraltes Thema, speziell der russischen Literatur, nämlich die Weltverbesserung, neu abgewandelt, wenn auch auf satirische Weise und zuweilen nicht ohne schwarzen Humor. Daneben finden sich sehr ernste Passagen über die „gebrechlich gewordene Kirche“, die „am Rande der Welt gewissermaßen in der Luft hängt“, aber sie ist da und lebt, wenn auch nur auf einen einzigen Popen gestützt und auf drei, vier alte Weiblein als Publikum — „und an Feiertagen sind es noch viel mehr“...

Haben solche Passagen den Richtern von Terz-Sinjawski mißfallen? Aber dann sollten sie andere Stellen nicht überlesen, in denen der russische Patriot zu Wort kommt, der übrigens seine Heimat nie verlassen hat noch verlassen wollte. Etwa die folgende, welche für den Stil und die Eigenart Sinjawskis charakteristisch ist: „Der russische Mensch gibt sich nicht mit Kleinigkeiten ab, er trinkt nicht heimlich wie ein Heimarbeiter, teelöffelweise. So mögen die Säufer trinken: die Amerikaner in Amerika, die Franzosen in Frankreich. Sie trinken, um sich zu besaufen — um ihr Gehirn zu vernebeln. Sie besaufen sich wie die Schweine, und dann schlafen sie. Wir aber wollen Wein haben, um das Lebensgefühl zu steigern und die Seele zu erwärmen, wir fangen erst an zu leben, wenn wir trinken, es zieht uns seelisch hinan, wir erheben uns über die unbelebte Materie, und für diese Aufschwünge brauchen wir eine Straße, eine holprige Provinzstraße, die um einen Buckel herum eine Kurve in den blanken Himmel macht.“ Freilich — linientreu ist auch das nicht, aber sehr russisch. Das müßten doch auch die „neuen Russen“ spüren! Und schließlich steckt im Namen des Städtchens die Wurzel der Worte ljubow=Liebe und ljubeznij=lie-benswürdig...

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