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Magie der Marionetten

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EINE MARIONETTE IST EIN SELTSAMES DING. Steif und tot hängt sie an ihren Schnüren wie ein krankes Kind, das bedauert werden will. Sobald sie jedoch von kundiger Hand geleitet wird, verwandelt sie sich blitzschnell in ein wunderliches Wesen von magischer Ausdruckskraft, bereit zu den unwahrscheinlichsten Bewegungen, Sprüngen und Gebärden. Sie kann tanzen und schweben, lachen und weinen — rühren und verzaubern. Sie kann eine geheimnisvolle Welt mit vielen übernatürlichen Dingen: mit Wundern, Geistern und Zauberern, schaffen. Das Wirkliche erscheint verwandelt, der Mensch entmenschlicht — die Dinge sind lebendig geworden.

DAS PUPPENSPIEL HAT EINE URALTE GESCHICHTE. Angeblich soll es vor tausend Jahren von den Zigeunern nach den westlichen Mittelmeerländern und in den kommenden Jahrhunderten von Gauklern, die sich im Gefolge der römischen Heere befanden, nach dem germanischen Norden gebracht worden sein. In Wien scheint die allgemeine Verbreitung des Marionettenspiels erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges begonnen zu haben. Im 18. Jahrhundert erlebte es eine Hochblüte. Es entstanden damals regelrechte Singspiele, Opern und Operetten für die Marionettenbühnen. Auch das 19. Jahrhundert hat einige berühmte Namen auf diesem Gebiet zu nennen. Matthias Tendier zum Beispiel, der zusammen mit Geisselbrecht und Tschuggmall das Triforium der heute noch bekannten Puppenmeister bildete.

In unserem Jahrhundert war Richard Teschner wohl einer der berühmtesten Marionettenspieler. Sein „Figurenspiegel“ im „Richard-Teschner-Zim-mer“ der Nationalbibliothek gehört zu den Sehenswürdigkeiten Wiens. Die Puppen mit den schrägen Augen und schlanken Gliedern besitzen einen seltsamen, orientalisch anmutenden Reiz. Und tatsächlich wurde Teschner bei ihrer Herstellung stark von javanischen Wayang-Golek-Figuren beeinflußt, die er einmal von einer Reise nach Holland in die Heimat mitgebracht hatte.

Eingehüllt in prächtig glänzende Kleider, hängen die Puppen in den

Schaukästen zur Besichtigung, um in der Vorweihnachtszeit ihr eigenartiges Leben zu entfalten. Die Bühne, auf der dann traumhaft anmutende Bilder vorüberziehen, ist in ihrer Konstruktion sicher einzigartig: ein kreisrunder Hohlspiegel, der in wechselvollen Verwandlungen und Lichtwundern wie ein magisches Auge in den verdunkelten Raum glüht. Dahinter aber spielt sich nun die unendlich zarte Geschichte von der chinesischen Prinzessin ab, die vom Drachen bewacht wird, oder irgendeine anmutig gestaltete Weihnachtslegende. Die Puppen haben keine Sprache, es sind stumme Geschöpfe, die nur durch ihre Bewegungen den Gang der Handlung verständlich machen. Doch geht eine seltsame Verzauberung von diesen Spielen aus. Und man beginnt plötzlich ein wenig den Orient zu begreifen — und warum ein Javaner stunden-, ja nächtelang den Schatten der Wayang-figuren auf der hellen Leinwand folgen kann.

AUCH JETZT NOCH hat Wien einiges an Marionettenbühnen zu bieten. Die volkstümliche Richtung vertreten die Bühnen in der Avedikstraße und im Hernalser Heimatmuseum. Hernais war übrigens Zentrum der Puppenspiele im vorigen Jahrhundert. Daran erinnert auch „Maxi“, das Maskottchen — eine große Puppe mit beweglichen Augen. Es sitzt vor der Tür, die in den Zuschauerraum führt, und stammt aus einer alten Hernalser Puppensammlung. Nach Angaben von Herrn Zant hat es bis jetzt nur Glück gebracht.

Herr Zant — hauptberuflich Reporter beim Österreichischen Rundfunk — ist Inhaber und Leiter der Marionettenbühne im Hernalser Heimatmuseum. Unterstützt wird er dabei von seiner Frau, einer ehemaligen Schauspielerin. Die Puppen werden von der Töchter hergestellt. Also ein Familienbetrieb. „Anders wäre es auch gar nicht möglich“, erklärte Herr Zant, „denn dann würden die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Besonders, da ja in Österreich keinerlei Subventionen für Marionettenbühnen gegeben werden.“

Es sind hauptsächlich Nestroy und Raimund, die hier über die Bühne gehen. Außerdem soll in der nächsten Zeit eine richtige Oper aufgeführt werden. Näheres wollte jedoch Herr Zant über diesen Plan zunächst noch nicht verraten.

Die zwölf Mitarbeiter — sie sind es unentgeltlich — führen die Puppen abwechselnd hinter der Bühne. „Es macht Spaß“, erklärt ein Student der Theaterwissenschaft, der eben dabei ist, die Beherrschung des komplizierten Bewegungsapparates zu erlernen, und: „Es liegen unendlich viele Möglichkeiten im Marionettenspiel verborgen.“

IN DER AVEDIKSTRASSE gab es im März dieses Jahres die Premiere von Raimunds „Barometermacher auf der Zauberinsel“. Ein bedeutendes Ereignis für Herrn Biedermann — den Besitzer der Marionettenbühne —, zu dem sämtliche Vertreter der Presse geladen wurden. Es war ihm nämlich gelungen, den ehemaligen Regisseur der berühmten Salzburger Marionettenspiele für sich zu gewinnen — ein beachtlicher Erfolg, den dieses ursprünglich rein private Hobby des Herrn Biedermann verzeichnen konnte.

Und daß er mit wirklicher Liebe bei der Sache ist — davon kann sich jeder Besucher selbst überzeugen. Vorerst wird er durch die äußerst kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Schilder fasziniert werden, die ihm den Weg durch eine breite Durchfahrt in den Hof und vojrbei an der Bieder-mannschen Autospenglerei zur Marionettenbühne weisen. Im Vorraum wird er sich einen Augenblick lang des Eindrucks nicht erwehren können, in einer Ausstellung gelandet zu sein — sosehr sind die Wände mit Bildern und Photographien vergangener Aufführungen beklebt. Auch im Zuschauerraum beeindruckt die sorgfältige Einrichtung.

Kulissen, Scheinwerferanlage und Puppen sind Eigenschöpfung Herrn Biedermanns. Und es ist eine richtige kleine Bühnenwelt, die sich hinter dem Vorhang verbirgt. Die unwirkliche, märchenhafte Welt der Marionette.

EIN MODERNES PUPPENTHEATER ist Prof. Rothstein mit seiner „Fadenbühne im Künstlerhaus“ gelungen. Es sind bizarre, phantastisch wirkende Figuren, die dort auf der kleinen Bühne ihr Wesen treiben. Augenblicklich allerddngs hängen sie allesamt sittsam an ihren Fäden im Atelier in der Seegasse, da der Vorführungsraum für andere Zwecke gebraucht wird und der neue noch nicht vollständig eingerichtet ist. Aber für den Herbst dieses Jahres ist schon ein neues Stück unter dem Titel „Der Mensch am Zwirn“ geplant, das bei Adam und Eva beginnt und im Atomzeitalter endet.

Auch Prof. Rothstein macht alle seine Puppen selbst — ebenso ist er Verfasser oder Bearbeiter der Texte und spricht sämtliche Männer- und Frauenrollen. Damit aber ist das Repertoire seiner Fähigkeiten noch nicht erschöpft; er kann nämlich auch zaubern. War er doch vor seiner Tätigkeit als Professor für Zeichnen und Kunstgeschichte vier Jahre lang Zauberkünstler in einem Variete. Und wenn er guter Laune ist, verwandelt er sich heute noch für seinen Besucher in den großen Zauberer Brimborium, in dessen schwarzen Zylinder ein Dutzend Eier verschwinden, um als farbige Tücher ihre Auferstehung zu federn. Auch sein Atelier gleicht einem phantastischen Durcheinander einer geheimnisvollen Zauberbude. Die Wände sind mit Photographien und Bildern aller Art beklebt, die Tische bedeckt mit den verschiedensten Metall- und Drahtteilen, mit Stoffresten, Farbstiften und Papierbögen.

Das Bemerkenswerteste aber sind zweifellos die Puppen. Mit ihren grotesken Körpern und großen Köpfen gleichen sie Faunen oder Kobolden aus dein Märchenbuch. Sic hängen an den Wänden — purzeln über Tische und Schränke. Doch sind sie nicht alle Phantasiegestalten. Denn da hängen tatsächlich Brigitte Bardot und Elvis Presley und daneben — kaum zu glauben — Bundeskanzler Adenauer und Nikita Chruschtschow. Nachdem sie in dem letzten Stück: „Prominenz am

Zwirn“, ihre Rollen ausgespielt haben, geben sie sich jetzt an der Wand von Professor Rothstein ein friedliches Stelldichein.

Manchmal sind die Puppen auch beim Fernsehen zu Gast. Und sie machen sich recht gut auf dem Bildschirm. Haben sie doch mit den Figuren aus dem Zeichentrickfilm vieles gemeinsam.

EINE VÖLLIG ANDERE ART DES PUPPENSPIELS - nämlich das Handpuppenspiel betreiben Herr und Frau Kraus in der Wiener LIrania. Während alle übrigen Wiener Marionettenbüh-nan hauptsächlich von Erwachsenen besucht werden, ist diese fast ausschließlich für Kinder gedacht. Da ist der Kasperl mit seinem improvisierten Wort, das unmittelbar und spontan in die Bewegung umgesetzt wird — Herr und Frau Kraus haben es dabei im Laufe der Jahre zur wahren Meisterschaft gebracht. Da sind die vielen Märchenstücke mit Prinzen und Prinzessinnen und das selbstvergessene Mitspielen der Kinder. Es gibt auch eine sogenannte „Kasperlpost“. Die Kinder schreiben Briefe an den Kasperl, und dieser antwortet durch die Feder von Frau Kraus. Da gilt es dann natürlich auf sämtliche Sorgen und Nöte näher einzugehen. Die Liesl trösten, weil ihre Puppe kaputtgegangen ist, und dem Peter den Mechanismus der neuen Eisenbahn erklären.

Die Familie Kraus besitzt die älteste lebende Puppenbühne in Wien und vielleicht die einzige, die aus ihren Spielen auch Gewinn zieht. Es begann vor zwölf Jahren mit einigen wenigen Puppen in einem alten Wirtshaus im dritten Bezirk. Heute sind es 300 Puppen — und die Wiener Urania. Alle acht Wochen erscheint der Kasperl im Fernsehen und im Sommer im Gänse-häufl auf der Uraniainsel. Und da Herr und Frau Kraus hauptberuflich als Lehrer tätig sind, werden auch des öfteren Gastspiele in den Wiener Schulen abgehalten.

PUPPENSPIELEN IST EINE LIEBHABEREI, die jede freie Minute in Anspruch nimmt. Und wenn Herr Kraus an seinen Köpfen schnitzt, ist er für niemanden zu sprechen. Reihenweise hängen die Leiber der Puppen in den Schränken seiner Wohnung. Die Köpfe aber, die nach Belieben ihren Körper wechseln können, schneiden ihre lustigen und unheimlichen Grimassen auf den gläsernen Abstellplatten des Vorraumes. Und immer wieder neue kommen hinzu. Denn darin ist sich Herr Kraus mit seinen Hobbykollegen einig: Wer einmal damit begonnen hat, kann es einfach nicht mehr lassen —. das Spielen mit den, selbstgeschaffenen Figuren, um damit sich selbst und alle Zuschauer ein klein wenig zu verzaubern.

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