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Maitre Biaggi und die Sündenböcke

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Der „Parti Patriote Rėvolutionnaire“ (PPR) von Maitre Biaggi hat zu seiner ersten öffentlichen Versammlung eingeladen. Und zwar in die Salle Pleyel. Das ist der größte Konzertsaal von Paris. In der nahegelegenen Salle Wagram, die sonst für solche Veranstaltungen gewählt wird, findet wohl gerade ein Boxkampf statt. Hier, bei der Salle Pleyel, fehlt der lange, schlauchartige Zugang zum anderen Saal, der schęn einem relativ schwachen Saalschutz erlaubt, die Angriffe politischer Gegner abzuschlagen. Nun, die mit weißen Hemden und schwarzen Baskenmützen uniformierten „Volontaires de I’Union Fran- ęaise“, die Biaggis Kampftruppe sind, gleichen das durch sorgfältige Filtrierung des Publikums aus. Eingelassen wird nur, wer sich vorher im Hauptquartier dieser neuen „Bewegung“ — Partei ist kaum die richtige Bezeichnung — eine Eintrittskarte besorgt hat. Wir müssen uns viermal mit der Pressekarte ausweisen, ehe wir den Saal erreicht haben.

Auf der Bühne wird der improvisierte Vorstandstisch noch schnell mit der Trikolore verkleidet. lieber der Bühne das einzige Schriftband des Saales: „Am 6. Februar 1956 hat der Zorn der Franzosen Algerien gerettet. Euer Zorn wird Frankreich retten! Frankreich an die Macht!“ Das erinnert an jene Straßenaufläufe in Algerien, denen es gelang, den damaligen Ministerpräsidenten M o 11 e t von der liberalen Nordafrikapolitik seines Wahlprogrammes abzubrin- gen.‘ Und es erinnert daran, daß der korsische Rechtsanwalt Biaggi einer der Inspiratoren jener Aufläufe gewesen sein soll. Zugleich aber ist der „6. Februar“ in der französischen Politik ein Stichwort allgemeinerer Art: er erinnert zuallererst an den 6. Februar 1934, an dem die Polizei einen unter faschistischen Vorzeichen stehenden Aufmarsch gegen die Kammer auf der Place de la Concorde im Blut erstickte. Der 6. Februar 1956 ist darum von manchem, der 1934 dabei war, als Revanche empfunden worden.

Der Lebenslauf Jean-Baptiste Biaggis, des Chefs des PPR, ist nicht der eines französischen Faschisten, wie er im Buche steht. Der erfolgreiche Advokat war während des letzten Krieges weder in Vichy noch bei den in Paris sitzenden Faschisten um D o r i o t und D ė a t. Er kämpfte unter de Gaulle beim „Freien Frankreich“ und hat sich in dessen „Kommandos“ ausgezeichnet. In der Politik taucht er an sichtbarer Stelle erst an jenem 6. Februar 1956 auf. Hat ihn also erst der Kampf um Algerien in rechtsextremistische Positionen gedrängt? Im Laufe des Jahres 1956 wird dann bekannt, daß Offiziere der französischen Armee auf Armeegelände in der Nähe von Paris die von Biaggi gesammelten „Freiwilligen der Französischen Union“ militärisch ausbilden. Zum freiwilligen Einsatz in Algerien, mit dem Ziel, nach Kriegsschluß dort zu siedeln — so sagen die Biaggisten. Die politischen Gegner behaupten jedoch recht bald, daß man diese politische Kampftruppe weniger in Algerien drüben als in Pariser Saalschlachten antreffe. Die Illustrierten bringen Photos von Biaggi beim Ausfall mit dem Gewehr. Man sieht dort einen etwas untersetzten, zur Korpulenz neigenden Brillenträger von ungefähr vierzig Jahren, im Sportdreß, mit etwas martialischem Ausdruck. „Der hält sich, wie jeder zweite Korse, für Napoleon!“ meckert der eine. „Schon wieder einer, der sich mit Jeanne d’Arc verwechselt — als ob wir nicht schon an de Gaulle genug hätten!“ seufzt ein anderer.

Heute, in der Salle Pleyel, hat sich das Publikum eingefunden, das von solchen Gestalten angezogen wird. Junge Leute und alte Leute; das reife Alter ist schwächer vertreten. Der Prozentsatz der weiblichen Besucher ist erheblich, doch überwiegen hier eindeutig die älteren Jahrgänge. Aber nicht nur die hübschen jungen Pariserinnen fehlen — es fehlen außerdem: Großbourgeoisie, Proletarier, Intellektuelle. Erheblich ist die korsische Kolonie; sie scheint den Abend ein wenig als ihre Stammesangelegenheit zu betrachten. Der Saal ist r cht ganz gefüllt; etwas mehr als 1OOO Personen durften anwesend sein.

Welches Spiegelbild bietet sich oben auf der

Bühne, wo acht Herren unter Applaus am Vorstandstisch Platz genommen haben? Biaggi ist genau so wie auf den Photos; die quicke Energie, das korsische Temperament fällt an dem gutgekleideten Manne auf. Links neben ihm, abwesend vor sich hin sinnend, ein in Mantel und Schal gehüllter Greis mit Romain-Rolland-Kopf: es ist Boyer-Banst, der aus Algerien ausgewiesene Veteran der „Ultras“. Er wird den ganzen Abend kein Wort sprechen. Daneben mit schmerzlich angespanntem Gesicht ein junger Landwirt, ebenfalls aus Algerien, Kämpfer aus einer aufgelösten Ultra-Organisation. Noch weiter links der joviale, stämmig-untersetzte Kommandant des Saalschutzes. Zur Rechten von Biaggi sitzt der Generalsekretär (dėlėgųė general) des PPR, der Pierre Auerbach heißt und gewiß nicht zufällig ein Jude ist: Biaggi legt Wert darauf, nicht als Antisemit zu gelten. Der nächste ist ein aus Marokko ausgewiesener Oberst. Daneben der obligate Vertreter der „Paras“ (in Zivil), der allerdings mit seiner Brille nicht sehr an den von den Plakaten popularisierten heroischen „Para“-Typus erinnert. Der obligate Arbeiter aus den Renault- oder Simca-Werken, den sich Neugründungen dieser Art sonst immer als Aushängeschild zulegen, scheint hingegen hier zu fehlen. Es wird sich auch 'sonst an diesem Abend zeigen, daß Biaggi. und sein Stab in Sachen Inszenierung noch manches hinzuzulernen haben. Wer heute um die Massen wirbt, muß wissen, daß es dafür eine Technik zu beherrschen gilt.

Als erster spricht der algerische Landwirt. So also sieht einer der „Ultras“ aus — jener Extremisten unter den Weißen Algeriens, gegen die Prokonsul Lacoste nach langem Zögern vorgegangen ist. Ein schmales, rassiges Gesicht, der ganze Körper wie! von einem großen Schmerz geschüttelt. Er preßt die Aborte mühsam hervor, ist kein Redner. Und ein kleiner Sprachfehler behindert ihn. Aber das läßt seine Worte nur eindringlicher werden: „Es ist uns völlig egal, ob wir aufgelöst sind oder nicht — wir werden uns erheben, um uns zu verteidigen! Wir wollen uns verteidigen! Wir wollen nicht, daß Frankreich versteigert wird! Nicht ein einziger Fußbreit Boden darf aufgegeben werden — nachher käme Straßburg dran!“

Was will unser „Ultra“ Positives? „Das Einheitskollegium beider Bevölkerungsteile wäre der Tod Algeriens und der Tod Frankreichs, denn Frankreich kann nicht leben ohne Algerien! Wir brauchen die .Parität' beider Bevölkerungsteile, des europäischen und des mohammedanischen, die immer noch befreundet sind und immer noch Zusammenleben!“ Er zögert aber nicht, für den ersteren die Superiorität in Anspruch zu nehmen: „Die algerische Kultur ist nicht älter als 125 Jahre.“ (Also nicht älter als der französische Einmarsch.) „Wir Franzosen aber haben seit zweitausend Jahren an der christlichen Kultur teil!“

Auch wer die Ueberzeugungen dieser „Ultras"

nicht teilt, kann sich der Wucht des Zeugnisses nicht entziehen. Man spürt, daß dieser Mann wirklich glaubt, was er sagt. Und daß er sich mit Gut und Blut für seine Ueberzeugungen einsetzen wird. Diese Viertelstunde ist der Höhepunkt des Abends. Alles nachher fällt ab. Der „Para“ erklärt sich kurz mit dem algerischen Landwirt solidarisch: „Wir haben genug vom ,System' und vom ganzen Parlament. Hätten wir damals schon getan, was Biaggi heute tun will, so hätten wir Indochina nicht verloren!“ Der von der scherifischen Regierung aus Marokko ausgewiesene Oberst liest Artikel aus dem „Monde“ vor. Auerbach stellt fest, daß der „Biaggismus“ das „Symbol des Glaubens an das unsterbliche Schicksal Frankreichs“ ist.

Zuletzt folgt die große, fast zweistündige Rede Biaggis. Er ist kein schlechter Redner. Er weiß seine Effekte zu steigern und nach einer etwas langfädigen Dissertation über die „fünf Phasen des revolutionären Krieges Moskaus“ — darauf reduziert sich für ihn die ganze Politik — mit seinen Attacken auf das „System“ sogar den Saal „zum Kochen zu bringen“. Aber man vergißt nie, daß man einen Mann vor sich hat, der hinter aller gespielten Vehemenz stets kühl bleibt. Als ihn einmal das Publikum mit Zurufen auffordert, sich näher über eine dunkel angedeutete Skandalaffäre auszudrücken, weicht er mit unnachahmlicher Handbewegung aus: „Ich bin doch Advokat…"

Was will Biaggi? Der Aufruf, den man später beim Verlassen des Saales in die Hand gedrückt erhält, formuliert recht lapidar: „Unser Ziel? Frankreich und die Franzosen! Unser Programm? Frankreich und die Franzosen! Unsere Mittel? Frankreich und die Franzosen!“ Und auch in seiner Rede sucht der Advokat diesen ganz unartikulierten, irrationalen Antrieb zu mobilisieren:'7,Ich will ein unbedingtes Glaubensbekenntnis ablegen: ich liebe mein Land! Es hat einen Menschentypus, es hat eine Zivilisation hervorgebracht, die bisher von anderen nicht erreicht worden sind! Es wäre ein Verlust für die ganze Welt, wenn Frankreich nicht da wäre.“ Und als Eideshelfer zitiert der Korse neben dem heiligen Ludwig, Victor Hugo und anderen natürlich Bonaparte. (Die Korsen neben uns klatschen wild Beifall.) „Friede, Wohlstand, Ehre“ ist die Losung dieses Nationalismus. Und dieser Nationalismus soll nicht rassistisch und nicht religiös (antimuselmanisch) sein. Vor allem aber soll er auch nicht der „nationalisme conservateur“ des „Figaro“ sein, sondern ein „nationalisme revolutionäre" der „kleinen Leute“. Es gebe im 20. Jahrhundert keine stärkere Waffe als den Nationalismus. Auch Sowjetrußland setzte ihn auf der ganzen Welt als sein Hauptwerkzeug ein.

Immerhin, sobald Biaggi ins Detail geht, muß er feststellen, daß diese apostrophierte Nation kein so erratischer Block ist. Er schneidet nämlich die kitzlige Frage an, wer Frankreich denn retten könne. Zwei Wege gebe es. Der eine sei, einen Clemenceau zu rufen, und der könne heute nur de Gaulle heißen. Zwar differenziert

Biaggi sogleich, gegen Clemenceau habe man auch sehr viel einwenden können (seine Verwicklung in den Panamaskandal von 1892 etwa), doch sei schließlich die Hauptsache, daß „der Tiger“ im ersten Weltkrieg sein Vaterland gerettet habe. Gleichwohl bricht im Saal ein Entrüstungssturm los: „De Gaulle ist ein Mörder!“ — „Dann nehmt doch gleich den Thorez I“ — „De Gaulle — das ist ja das .System' in Person!“ Und Biaggi lenkt ein: „Dann muß eben unser PPR die Aufgabe übernehmen …"

Trotz aller Allgemeinheiten — ohne Sündenböcke geht es jedoch nicht. Immer wieder wird Biaggi bei seinen Ausführungen über die „Illegitimität des Regimes“ — „Die Vierte (Republik) oder Frankreich: Wählt!“ heißt ja der Slogan des PPR — aus dem Saal mit Hinweisen auf die Schuldigen unterbrochen. Schimpft er auf Presse und Radio, so tönt es: „Das sind die Juden!" Und Herr Auerbach auf der Tribüne oben zerreißt nervös das Papier in seinen Händen und scheint sich etwas komisch vorzukommen. Erinnert er sich etwa an Celines Ausspruch, daß in Frankreich bei der Gründung einer antisemitischen Liga deren Sekretär todsicher ein Jude sei? Schimpft Biaggi auf die „Technokraten“ um Monnet, die das Verbrechen planen, „Straßburg zu internationalisieren“, so tönt es: „Das ist die Synarchie!“ Nur scheint sich das Publikum dar-

unter weniger vorstellen zu können als unter dem „Youpins“ (Schimpfwort für die Juden); der Beifall ist schwächer.

Das Interessanteste allerdings ist, daß der Hauptsündenbock der letzten Jahre, Meridės- France, offensichtlich etwas abgenützt ist. Dieser Mann, der sich in letzter Zeit mit skeptischem Lächeln in den Hintergrund begeben hat und offensichtlich nicht daran denkt, ein zweites Mal den Liquidationsverwalter für die Fehler der anderen zu machen, ruft nur noch Pflichtproteste hervor. Zu einem wahren Orkan — dem stärksten des Abends! — führt jedoch Biaggis Denunziation des zur Macht strebenden M i 11 e r a n d. Es scheint also auch das Manipulieren mit Sündenböcken seine insgeheime Oekonomie zu besitzen! „Füsiliert ihn!“ tobt der Saal. „An den Galgen!“

Biaggi hat offensichtlich nicht den Atem eines großen Redners vom Schlage eines Pou- jade. Er fällt plötzlich merklich ab und verzettelt sich in ein Sammelsurium von kleinen Reformvorschlägen, in denen Vernünftiges und Abstruses kurios gemischt ist. Im Saal langweilt man sich dabei offensichtlich.

Auch die pathetischen Abschlüsse mißlingen. Biaggi ruft zum Schwur auf, daß man sich gegen jeden Verrat zusammenschließen wolle. Aber dann schwört doch niemand. Die Gedenkminute für die in Nordafrika wird nach etwa acht Sekunden überstürzt abgebrochen. Der gemeinsame Gesang der Marseillaise, der den Abend beschließt, ist dünn.

Biaggi steht zuletzt noch allein auf der Bühne. Er schüttelt die Hand von zwei, drei Bekannten, die in der Nähe sind. Aber das Publikum drängt zu den Ausgängen, zur Garderobe. Biaggi blickt um sich und merkt, daß er allein ist. Verlegen drückt er sich in die Kulisse.

Wäre hier em Führer aufgestanden, so hätte man ihn auf den Schultern aus dem Saale getragen.

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