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Man nennt es Sport

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Darf ich, bitte, ehe der Aufschrei der Empörung losbricht, eine autobiographische Randbemerkung machen? Also: ich kann leidlich gut schwimmen und Tischtennis spielen, habe an zwei Skikursen teilgenommen, spiele zuweilen Tennis, habe Fechtunterricht gehabt, bin Schlittschuh gelaufen und kann radfahren. So — und nun meine These: Der Sport ist eine Zivilisationskrankheit.

Der Sport ist — von gewissen Grenzfällen abgesehen — ein krankhafter Auswuchs des 20. Jahrhunderts. Die Antike kannte zwar Olympische Spiele, und im Mittelalter stachen die Ritter einander bei Turnieren von den Pferden, aber zu keiner Zeit und bei keinem Volk erfreute sich der Sport solcher Beliebtheit und solchen Ansehens wie heutzutage in der gesamten zivilisierten Welt.

Das mag man als einen Fortschritt der Zivilisation buchen, in Wahrheit aber ist es ein mit moderner Sensationsgier verbrämter Atavismus, ein gewaltiger Triumph des Unsinns. Der Menschheit ist in absolut ganz und gar keiner Weise gedient, wenn der Weltrekord im Hundertmeterlauf von 10,1 auf 10,0 Sekunden hinabgedrückt wird. Und wenn man die Energien (ganz zu schweigen von den Geldmitteln) einer Tour de France für sinnvolle Tätigkeit verwenden würde, so könnte manch nützliches Werk verrichtet werden.

In seinen Urformen hatte das, was wir heute Sport nennen, eine gewisse Lebensnähe. Schwimmen sollte man können, weil es schließlich vorkommen kann, daß man einmal unversehens ins Wasser fällt und ,weil man sonst nicht an die Adria auf Urlaub fahren kann. Der Skilauf war und ist auch heute noch für Bauern im hohen Norden und in den entlegenen Alpentälern im Winter die einzig mögliche Fortbewegungsart Und wer im Urwald am schnellsten lief, der entkam entweder seinen Feinden oder er Holte sie und schlug sie im Faustkampf nieder.

Von dieser Naturbelassenheit ist heute schon lange keine Rede mehr. Die Sportgeräte sind dem modischen Wandel unterworfen, die Spitzenkönner sind — wenn auch amateurhaft verkappte — Professionals, man hat sportliche Verpflichtungen ebenso wie gesellschaftliche Verpflichtungen. Der Sport stopft die Tätigkeitslücken, dje die wachsende Freizeit aufreißt.

Das ist — zugegebenermaßen — eine nützliche Funktion. Denn es ist immer noch weitaus besser, nach Büroschluß Stabhoch zu springen, statt sich zu betrinken oder Straßenraub zu begehen. Aber so eigentlich ein großer zivilisatorischer Fortschritt ist das nun wiederum nicht. Denn man könnte ja auch in der Freizeit Hausmusik betreiben oder ein Buch lesen oder in ein Konzert gehen. Der Sport qualifiziert sich demnach vor allem als Verlegenheitslösung der Freizeitgestaltung — sowohl der ausgeübte, aktive, als in ganz besonderem Maße der Zuschauer-, der passive Sport.

Der Zuschauersport entspricht dem Zirkusbesuch. Mit dem einen Unterschied freilich, daß sehr viele Männer einen Lederball gegen ein Tor treten können, während nur sehr wenige einen Handstand auf dem Drahtseil ausführen können. Und zuweilen, wenn die Sportberichterstatter nach einem besonders lobendem Wort suchen, verfallen sie ja auf „Ballartisten“ — und wissen gar nicht, wie reeht sie haben. Denn natürlich sind die Spitzensportler Artisten. Nur produzieren sie sich eben nicht im Zirkuszelt, sondern auf Skipisten, im Betonoval eines Stadions oder auf der Aschenbahn. Außerordentliche physische Veranlagung plus unermüdliches Training befähigt die Wimbledonsieger ebenso wie die Trapezkünstler zu ihren Leistungen.

Aber der Sport hat die viel breitere Basis. Ein noch einigermaßen junger Mensch, der heute keinen Sport betreibt, ist eo ipso suspekt. Vielleicht hat er ein nicht eingestandenes schweres inneres Leiden, vielleicht ist er ein Anarchist, ein Nonkonformist, der die Spiel- und Sportregeln des modernen Lebens nicht gelten lassen will? Ein Stubenhocker, der bald kränkelnd dahinsiechen wird, während seine sportlicheren Altersgenossen einem kraftvollen, hohen Alter zustreben.

Denn der Sport gilt als gesund. Man muß ja nicht unbedingt Rekorde erzielen: man macht Bewegung, ist in der freien Luft und unterhält sich, kräftigt die erschlafften Muskeln, atmet die Büroluft aus und so weiter. Nämlich beim Sportkegeln, beim Sporttanzen, beim Sportfechten, auf der Aschenbahn, im Sandstaub des Tennisplatzes oder der Landstraße, im desinfizierten und doch nicht ganz sauberen Wasser des Schwimmbeckens. Na ja.

Einer sorgsamen wissenschaftlichen Untersuchung muß es überlassen ^.bleiben, festzustellen, ob der gesundheitliche Nutzen der sportlichen Betätigung größer ist als der angerichtete Schaden. Sicher ist, daß allein im Boxring und auf den Rennbahnen schon Hunderte den Tod gefunden haben.

Aber das ist ja auch eine der Faszinationen des sogenannten Sports: die Unterstreichung des Kämpferischen bis zur Lebensgefahr — für sich selbst und die Gegner. Das hat es aber schon bei den Gladiatoren gegeben, und somit ist auch hier der Fortschritt des 20. Jahrhunderts eher ein Rückschritt.

Die Spitzensportler von heute werden nur noch von den allergrößten Hollywoodstars in den Schatten gestellt; an das Sprachgebiet gebundene Theatergrößen können überhaupt nicht mehr mitmachen. Daher denn auch das Gedränge um die Rekorde, die Landesrekorde, die Jugendrekorde, die Europarekorde, die Weltrekorde, die Hallenweltrekorde, die Schanzenrekorde, die Olympiarekorde, die Jahre'srekorde: Jedem sein Rekord.

Und nicht zu vergessen: je mehr Rekorde, je mehr Sensationen. Die Traumgrenze erstmals unterboten. Endspiel im ausverkauften Stadion. Neuer Wasserskisprung-Schanzenrekord. Weltmeisterschaftsfahrer rast in Zuschauermenge. Der beste Diskuswurf des Jahres. Mutter von zwei Kindern Weltbeste im Hürdenlauf. Der I Boxkampf des Jahrhunderts. Der Unsinn des | Jahrtausends.

Man kann im Tennisklub und auf der Skiwiese nette Leute kennenlernen und etwas Morgengymnastik kann nicht schaden. Aber man sollte sich davor hüten, den Sport ernst zu nehmen. Er wird aber ernst genommen, und so werden vielleicht die Kulturhistoriker späterer Jahrhunderte einmal berichten: „ln der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigten sich verschiedenartige Symptome einer Geisteskrankheit, die man mit dem Sammelnamen .Sport' bezeichnete.“ Ski Heil. Gut Holz. Neun — zehn — aus.

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