Mann des ersten Wortes

Werbung
Werbung
Werbung

Er zählt zu den bekanntesten Feuilletonisten und Literaturkritikern: Fritz J. Raddatz legt nun seine Erinnerungen vor.

Warum sitze ich unter lauter Has beens?" notiert Fritz J. Raddatz im Oktober '85 leicht indigniert in sein Tagebuch. Ein paar Tage später wird er selbst zum "Has been", zum Gewesenen: Der einflussreiche und gefürchtete Feuilletonchef der Zeit war ohne viel Federlesens zum Paris-Korrespondenten degradiert worden. Der Anlass war für einen Journalisten schwerwiegend: Nicht, dass Raddatz "nur" abgeschrieben hätte - er hatte auch noch falsch abgeschrieben. Er hatte eine satirische Glosse in der "Neuen Zürcher Zeitung", in der Goethe mit dem Frankfurter Bahnhof in Zusammenhang gebracht wurde, für bare Münze genommen und nicht gemerkt, dass es zu dieser Zeit noch gar keine Eisenbahn gab. Aus dem Rampenlicht ins Zwielicht befördert, von den ehemals neiderfüllten Kollegen nun offen mit Spott und Hohn bedacht - der Stachel "Zeit" saß und sitzt tief, so tief, dass Raddatz in seiner Autobiografie erst nach 400 Seiten darauf zu sprechen kommt, als wolle er mit der Erwähnung seines Sturzes einer lästigen Pflichtübung genügen. In Wahrheit dürfte er der Schlüssel dazu sein, dass in diesen mit Spannung erwarteten Memoiren ein Tenor dominiert: Das Bemühen, eigene Taten ins rechte Licht zu rücken, der Versuch, sich zu rechtfertigen, und die Versuchung, die Welt in Gut und Böse, in Raddatz-Gegner und Raddatz-Feinde auseinander zu dividieren.

Schneller Zugriff

Hat er das nötig? Eines kann man von Raddatz am wenigsten erwarten: Das sine ira et studio des Wissenschaftlers, das ausgewogene Urteil des abgehobenen Intellektuellen. Auch in diesen Erinnerungen - und die zahlreichen aus dem Bauch heraus entstandenen Tagebuchpassagen bekräftigen das - schreibt ein Mann des ersten, nicht des letzten Wortes. Ein Mann des schnellen Zugriffs zudem, der trotz seines brillanten theoretischen Wissens immer zuerst "Macher", Pragmatiker war. "Wir lernten durch das Leben" heißt die Quintessenz der frühen Jahre. Ohne Mutter, als Sohn eines hohen Offiziers und Ufa-Direktors verbringt er in Berlin eine unbehütete Kindheit. Die Stiefmutter weiht den 12-Jährigen in die Geheimnisse der Liebe ein. 1946, als der TBC- kranke Vater im Sterben liegt, huscht "Fritz, die Ratte" nachts durch die Trümmer Berlins, um nach Brennholz zu suchen. Einträglicher ist das Geschäft, blonde deutsche Mädels an schwarze GI's zu vermitteln. Pro Mädchen bekommt er drei Zigaretten, die er auf dem Schwarzmarkt gegen Codein für den Vater eintauschen kann.

Zuhause in der Literatur

Wer ohne Familie aufwächst und das Leben derart in seinen Niederungen mitbekommt, sucht sein Zuhause in der Literatur und den schönen Künsten. Bereits mit 22 ist Raddatz, "ein dürres kettenrauchendes Gespenst", Cheflektor des Ostberliner Verlages "Volk und Welt"; sogar das Stasi-Protokoll rühmt seinen Intellekt und Arbeitseifer. Mit Besessenheit macht er Bücher, entdeckt er für die deutschen Leser die amerikanischen Realisten wieder, nimmt sich der vergessenen Exilliteratur an und arbeitet an einer Tucholsky-Ausgabe. Die Tucholsky-Witwe Mary muss der "Locken-Krull" fast drei Jahrzehnte beknien, bis sie dessen Tagebücher und Briefe herausrückt.

Als er 1960 zu Rowohlt wechselt, macht er durch Cleverness und verlegerischen Instinkt Ledig-Rowohlt bald seinen Verleger-Posten streitig. Er ruft die erfolgreiche Reihe "rororo aktuell" ins Leben, entdeckt Autoren wie Walter Kempowski und Rolf Hochhuth, schreibt nebenbei eine Tucholsky- und eine MarxBiografie. "Du bist zu perfekt, mit dir spiele ich nicht Tennis," soll Rudolf Augstein zu ihm gesagt haben.

Der rastlose Workoholic Raddatz, dessen Karriere-Leiter steilst nach oben führte, der links engagierte, beißwütige Kritiker mit Schnoddermaul, der als normaler Verlagsangestellter bald eine Nummer zu groß ist - das ist die eine Seite. Die andere: Der Exzentriker, Porschefahrer und Kunstsammler, Gourmet und Snob, der in Kampen auf Sylt relaxt, sich mit Vorliebe in der High Society tummelt oder mit Hubert Fichte durch die Hamburger Schwulen- Bars zieht. Den Vergleich, den er für diesen parat hat, kann man - wie so vieles in diesem Buch - auch als versteckte Selbstcharakteristik lesen: eine verspiegelte Disco- Kugel, die sich im Gefunkel selbstgezündeter Strahlen dreht.

Doch mit zunehmendem Alter nimmt das Strahlen ab, die Schatten des "ächzenden Lebensbaumes" werden größer. "Wachsende Bitterkeit" diagnostiziert er an sich, kommt sich "von den Journalisten geschlachtet, von den Künstlern geliebt" vor. Die Belege, die er dafür liefert, sind zahlreich und manchmal - wenn er aus den Ergebenheitsbezeugungen der Freunde zitiert - auch etwas zu ausführlich. Gleichwohl - dieser affektgeladene und espritvolle Rückblick auf den Kulturbetrieb der letzten 50 Jahre, der zugleich ein Blick hinter die Kulissen ist, liest sich an keiner Stelle langweilig. Offener und ungeheuchelter kann man darüber nicht schreiben.

Unruhestifter

Erinnerungen von Fritz J.Raddatz

Propyläen Verlag, München 2003

491 Seiten, geb., e 24,70

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung