6648723-1958_40_04.jpg
Digital In Arbeit

MaoTse-tung

Werbung
Werbung
Werbung

Ein altes Weib mit langen, beiderseits des feisten, undurchdringlichen Antlitzes gescheitelten Haaren, gehüllt in ein blaues Baumwollkleid; sie ist mittelgroß und auf den ersten Blick weckte an ihr nichts Aufmerksamkeit, nichts unterschiede sie von Millionen ihr ähnlicher Gestalten in der großen Chinesischen Volksrepublik, wären nicht die feinen Hände und die verschleierten, durchdringenden, dunklen Augen. An diesem Weibe wirkt allerdings noch etwas anderes merkwürdig, und am merkwürdigsten: daß sie nämlich ein Mann ist, ein Staatsmann, ein Staatenschöpfer, dessen Namen Unzählige schwärmerisch nennen und den Unzählige grimmig verfluchen, jedenfalls, wenn je einer, der in jeder Hinsicht Fesselndste aus der unserer Zeit verhängten Reihe der „H o r s s k r i e“: Mao Tse-tung, wie man ihn zu schreiben gewohnt ist, Mao Dsö-dun, wie es in besserer Anpassung an die phonetische Wiedergabe der chinesischen Aussprache lauten sollte.

Längst war er in seinem Heimatland bekannt, als man noch in der breiten Oeffentlichkeit Europas und Amerikas nichts von ihm wußte, während die Tschiang Kai-schek, Wang Tsching-wei, Sung Tse-wen, Feng Jü-hsiang, Tschang Hsüe-liang ständig in den Spalten der Weltpresse erschienen. Eines Tages aber war der Bauernsohn aus Shao Shan bei Hsiang Tan Front page und mitten in die Zeitgeschichte eingetreten. Der Bauernsohn? So will es die offizielle Lesart, die den am 26. Dezember 1893 geborenen Führer des chinesischen Kommunistenreiches als eines hartherzigen Kulaken ungleichen Sprossen rühmt. In Wahrheit entstammt Tse-tung, zu deutsch etwa „Der östliche Gesalbte“, einem jener den Armen im Dorfe tödlich verhaßten Kleingutsherrengeschlechter — dem der Mao (deutsch: Haar) —, die ihre Arbeiterschaft ausbeuteten, auf Wucherzinsen Geld liehen, zähe am Hergebrachten hingen, doch nicht ohne einen Anflug chinesisch-klassischer Bildung, und die insbesondere in konfuzianischer Moral (theoretisch) wie in moralfreier

Kunst des Erwerbens vpn Geld und Geldeswert (praktisch) wohl bewandert waren.

Mit diesen seinen Eigenschaften des bedenkenfreien Staatengründers und Zerstörers alter, morsch gewordener Gemeinwesen, hat Mao Tse-tung Institutionen, Bräuchen und Millionen Menschen ein „Stirb“ und einem rücksichtslosen Neuen das gebieterische „Werde“ zugerufen. Das Agrarland, dessen Wirtschaft durch den kleinen Gutsherrn und den so nebenbei Wucher treibenden hablichen Einzelbauern bestimmt wurde und in dem daneben schlaue, sybaritische Handelsleute fette Gewinne erzielten, während über allen eine Kaste von hochgebildeten Beamten und, mitunter aus'der Tiefe auf dem Weg über ein kühnes Räuberdasein emporgestiegene, Kriegsherren regierten, dieses China verwandelt sich vor unseren Augen binnen wenigen Jahren in ein riesiges Arbeitsfeld landwirtschaftlicher Kollektive, deren zumeist rohe und vom Umbruch überrumpelte Mitglieder im hastigen Tempo aus primitivsten zu motorisierten Methoden des Ackerbaues und der Viehzucht übergehen müssen. Einfuhr, vornehmlich aus der UdSSR und aus deren europäischen Satellitenstaaten, und eigene Produktion vermögen zunächst dem gewaltigen Bedarf an Maschinen und Werkzeugen nicht nachzukommen; die Umschulung fordert Zeit. Dennoch sind Fortschritte erzielt worden. Das gleiche läßt sich von der noch überhitzteren Industrialisierung behaupten. Brückenbauten, Entwässerungsanlagen, Kombinate bezeugen die Tüchtigkeit der chinesischen Techniker und Arbeiter. Als Beispiele für die Möglichkeiten eines vor einer Generation fast industrielosen Reiches seien erwähnt: der Aufschwung der Automobilindustrie, die allerdings schneller die raffiniertesten Luxuswagen herzustellen verstand als eine ausreichende Zahl kleiner Massenverkehrsmittel; die weitgediehene atomare Rüstung, durch die Rotchina faktisch bereits zur vierten Atomgroßmacht geworden ist; die Schaffung ausgedehnter Fabrikationszentren in der Man dschurei, im Bannkreis von Peking und in den Fremden unzugänglichen Gegenden tief im Innern. Auch die kulturellen Leistungen sind beachtenswert. Die Zahl der Analphabeten nimmt rapid ab. Das Streben nach einer Vereinfachung der für die breiten Massen unerlernbaren Schrift und nach Verbreitung einer einheitlichen, allgemeinen Hochsprache zählt zu den vordringlichsten Aufgaben der Staatsführung; Mao wirkt dabei rege und aktiv mit.

Die Hygiene hat sich beträchtlich gebessert. Das Räuberunwesen ist vermindert worden und die Korruption in den Aemtern verschwindet vor den drakonischen Strafen, die den Ertappten drohen.

So weit, so gut. Doch nun zur Kehrseite der Medaille. Das harmonische Familienleben eines Volkes, bei dem die kindliche Pietät und die Achtung vor einem greisen Haupte die Grundlagen jeder Moral bildeten, ist dahin. Die Bande der Großfamilie sind zerrissen; vor der Autorität der ■Eltern, der Aelteren, beugt sich niemand, am wenigsten die vom Staat mit Beschlag belegte Jugend. Die Menschen werden zu Nummern in einem Bienenstaat. Bindungen zwischen ihnen, sie rührten her aus der Verwandtschaft, der Freundschaft, der Nachbarschaft, werden verworfen und es gilt nur d i e Verknüpfung, die von oben her, im Interesse der Partei, anbefohlen und die dann heilig ist. Zugleich mit dem Aberglauben, den das Regime, an sich mit Recht, bekämpft, raubt man dem Volk in einem Aufwaschen den Glauben an jede Transzendenz. Den Gebildeten, vorab den Studenten, wird der gröbste Materialismus eingehämmert.

Das kommunistische China ist ein geschworener Feind vor allem des Christentums und besonders des Katholizismus. Es besagt dabei nicht viel, daß sich Haß und Maßnahmen vorwiegend gegen das kehren, was seitens der Herrschenden als politisch störend, als Beeinträchtigung ihrer uneingeschränkten Gewalt auch über die Seelen empfunden wird. Das Schisma, das den chinesischen Katholiken aufgedrängt wird, erweist sich auf die Dauer als wirksameres Zersetzungsmittel denn ein sturer, nur brutaler Vernichtungskrieg wider die Millionen durch den Appell an ihre patriotischen und sozialen Gefühle umgarnten einheimischen Gläubigen. Auf das Sollkonto des Umbruchs gehen endlich die ungezählten grausamen Mordtaten, die im Zuge der Revolution geschehen sind, die niedergebrannten Baudenkmale der Vergangenheit, die zerstörten Ktrrist&hätze.“

Mao hat für seine unbarmherzige Härte eine Rechtfertigung bereit, die er — wie so oft aus dem literarischen Erbe des alten China schöpfend — seinem Lieblingsbuch „Alle Menschen sind Brüder“ entlehnt. „Wir müssen von Wu Sun lernen, der einen Tiger auf der Brücke in Sinjan tötete. Wu Sun meinte, der Tiger werde Menschen fressen, unabhängig davon, ob sie ihn provozieren würden oder nicht. Man muß wählen: entweder den Tiger erschlagen oder von ihm gefressen werden.“ In jedem Feind, in jedem Rivalen, in Tschiang Kai-schek oder in einer dem heutigen China mißwollenden fremden Macht, in der Bourgeoisie und in der Religion, erblickt er einen Tiger, der erlegt werden soll. Solange und soweit dieses Untier nämlich Feind oder Rivale oder überhaupt ihm, Mao, und dem chinesischen Regime gefährlich ist.

Das ist zugleich die Quintessenz der bedeutenden, gescheiten und unheimlichen Bücher, in denen Mao seine Lehren und deren Anwendungsweise vorträgt. „Ueber einen verlängerten Krieg“ (1938), „Die Chinesische Revolution utid die Chinesische Kommunistenpartei“ (1940), „Die Neue Demokratie“ (1940), „Ueber eine Koalitionsregierung“ (1945) und die späteren Schriften samt seinen Rechenschaftsberichten und anderen Reden sind Betrachtungen, die aus dem einen, dominierenden Leitsatz hervorquellen. Von der russischen Lesart des Kommunismus unterscheiden sie sich dadurch, daß sie trotz allem geschmeidiger sind. Denn wenn in China außer den Arbeitern, den Bauern (die in Fernost faktisch an erster Stelle erscheinen), den Soldaten und den Intellektuellen noch die kleinen und mittleren Kapitalisten zur nationalen Front gehören dürfen, wenn Mao in der Wahl seiner — zeitweiligen — Verbündeten nicht wählerisch ist und wenn er ebensogut die USA wie die UdSSR zum Partner hätte erkiesen können, wenn er sich mit dem Dalai-Lama und dem Pantschen-Lama zuv vertragen bemüht und wenn er spgar andeuten ließ, für den Erzverräter Tschiang Kai-schek gebe es, um den Preis des Verzichts auf Widerstand, ein warmes und ehrenvolles Plätzchen auf Taiwan, wo der Generalissimus bis zu seinem Tod im aus Peking übertragenen Wirkenskreise schalten dürfte ... dann sind wir versucht, dem chinesischen Leitsatz vom zu tötenden Tiger einen liebenswürdigeren wienerischen Nachsatz hinzuzufügen, mit dem dann Maos Politik durchdringend beleuchtet wäre. Als man Karl Lueger einmal befragte, wie denn er mit mehreren Juden so freundschaftlich verkehren könne, entgegnete er: „Wer a Jud is, dös bestimm i!“ Mao Tse-tung bestimmt, wer ein Tiger ist, besser: wie lange jemand ein Tiger ist...

Der Triumph des Staatsmanns, des Feldherrn, des Revolutionärs ist vollkommen. Von seinem Charakter möchten wir das kaum sagen. Ueber die Begabung des Politikers, des Organisators, des Strategen und des Dichters — sein Poem „Der Schnee“ gehört der Weltliteratur an — waltet kein Zweifel. Doch welche Schattenseiten weist auch diese, mehr als Stalin strahlende Sonne auf. „Die Sonne geht rot in China auf, im Volksreich ist ein Mao Tse-tung erstanden“, so hebt die neue Nationalhymne an. Ihm eignet dämonische Größe. Größe anzuerkennen ist uns Pflicht. Doch wir schaudern dennoch vor dem Dämonischen zurück. Es zu beklagen, es anzuklagen, bleibt uns sittliches Gebot.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung