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Marionetten der Götter

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Es gibt Aussprüche des alternden Piaton, die schwer sind von einem Tiefsinn, der bedrückend wäre, wenn nicht letzten Endes, trotz aller Strenge des Urteils, eine heitere, richtiger: eine verklärte Weltansicht aus ihnen spräche. Die meisten großen Philosophen haben gegen das Ende ihres Lebens Einblicke in Tiefen des Denkens getan, von denen sie nur noch in andeutenden, geheimnisvollen Worten sprechen konnten, wie zum Beispiel die berühmte Stelle aus einem Altersbrief des Aristoteles: „Je älter ich werde, um so mehr lerne ich zwei Dinge lieben: die Einsamkeit und die Mythen.“ (Übrigens ein sonderbares Wort im Munde des Schöpfer der exakten Logik und der wissenschaftlichen Methode, der angeblich zu Ende seines Lebens reiner Empirist geworden sein soll, eine Auffassung, die schon allein dieses eine Wort zu widerlegen geeignet ist.) Oder das Bekenntnis des hl. Thomas v. Aquin: „Bruder Reginald, alles, was ich bisher geschrieben habe, scheint mir wie Spreu gegen die Wahrheiten, die ich jetzt auszusprechen hätte“ — aber keiner hat, wenn auch nur in paradoxen, rätselhafteil, manchmal melancholisch-scherzhaften Formen so viel von diesen letzten Einsichten, diesen an die äußersten Grenzen des Denkbaren streifenden Gedanken mitteilen können wie Piaton.

Platons Gesetze — sein letztes Werk, über dessen endgültiger Ausarbeitung er gestorben ist — sind ein typisches Alterswerk. Man hat sie als ein Werk der Resignation bezeich-an. Das ist richtig, aber nicht in dem Sinne, als ob er die Ideale, die er im „Staat“ als Ziele des staatlichen und sittlichen Lebens aufgestellt hat, nunmehr aufgegeben hätte. Der Unterschied im Standpunkte der beiden Werke liegt darin, daß der „Staat“ annimmt, es könne in der zu ordnenden menschlichen Gemeinschaft eine ganze Klasse von „Philosophen“ geben, Menschen, die die Wesenheiten der Dinge und die ewigen Normen des Rechten und Guten so deutlich erkannt, so unmittelbar geschaut haben, daß ihnen die Leitung des Staatswesens anvertraut werden muß, und auf diese geistige Aristokratie die Ordnung des Staates aufzubauen ist, während Plato in den „Gesetzen“ Anleitung dazu geben will, wie man durch eine feste, unwandelbare Gesetzgebung, die die lebendige Leitung der Philosophen ersetzt, den bestmöglichen, auf die ewigen Gesetze des Sittlichen begründeten Staat nur aus solchen Menschen aufbauen kann, wie sie eben in der Welt leben, gut geartet, aber schwach, zur höheren Erkenntnis, zur unmittelbaren Anschauung der Ideen und des an sich Gerechten und Guten unfähig, Menschen, die das Jenseitige und rein Geistige nur im Abglanze des sichtbaren Schönen zu erfassen vermögen.

Solche Menschen sind nicht, wie die „Philosophen“ des „Staates“, lebendige Verkörperungen des Rechtes, wahrhaft frei durch innere Bindung an das Ewig-Sittliche, keinem äußeren Gesetz mehr unterworfen, weil das Gesetz der Vernunft in ihrem eigenen Innern lebendig wirksam ist und sie sich selbst Gesetz geworden sind (weil sie, wie Dante sagt, Mitra und Krone der freien Herrschaft über sich selbst tragen), sondern sie bedürfen der Leitung des Gesetzes, das ein solcher Weiser gegeben hat, da dem Zuge der Vernunft und des Rechts in ihnen der Zug der Leidenschaften, der Furcht, der Begierde entgegenwirkt. Sie sind — das spielerische. Gleichnis gebraucht Piaton — Marionetten in den Händen der Götter. Alles kommt darauf an, daß wir dem Zug des weichen, sanften, goldenen Drahtes der Vernunft und des vernunftmäßigen Gesetzes gehorchen, an dem uns die Götter bewegen -und uns möglichst dem Zuge der harten, eisernen, unförmlichen Drähte widersetzen, mit denen wir an die Gegenstände unserer Leidenschaften gebunden sind. Im weiteren Verlaufe der Darlegung werden dann die Gesetze entwickelt, die einem solchen Staats-

wesen zu geben wären, damit es das vernunftgemäße', den Göttern gefällige Leben verwirklicht. Die Rede kommt auch darauf, daß die gemeinsamen Feste, die Reigentänze, die Musik, an der sich die Staatsbürger in ihrer Muße ergötzen, gesetzlich zu regeln wären. Denn es ist nicht gleichgültig, sagt der athenische Gastfreund, der mit dem Kreter Kleinias und dem Spartaner Megillos das Gespräch über die Gesetze führt — es ist nicht gleichgültig, welche Gesänge, welche Art von Musik, welche Tänze das Volk liebt

und pflegt, da dies alles viel mehr, als man gemeinhin denkt, den Charakter bildet, die Denkungsart formt, entweder zu wohlgefälliger Harmonie oder zu zügelloser Ausgelassenheit. Und als sich der athenische Gastfreund — durch dessen Mund Piaton seine eigene Ansicht äußert — ausführlich in die Behandlung dieser Frage einläßt, macht ihm Megillos den Einwand: „Sind denn diese Dinge wichtig genug, um so lange bei ihnen zu verweilen, wenn wir von der Ordnung des Staates reden?“ Da antwortet der athenische Gastfreund: „Was ist überhaupt wichtig im menschlichen Leben, Megillos? Nichts ist wichtig und doch muß das Leben gelebt werden, als ob es wichtig wäre, und das ist eben das Schwere am Leben.“ Megillos verwahrt sich gegen diese Meinung. Wie könnte man meinen, daß es im Leben keinen Unterschied zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen gebe: „Was hältst du für wichtig?“ fragt ihn der athenische Gastfreund. „Wahrscheinlich hältst du Krieg führen, Recht sprechen und ähnliches für wichtiger als Reigentänze, Musik und Gesänge. Würdest du aber sagen, daß jemand Krieg führt um des Kriegführens willen oder Gerichtsverhandlungen um ihrer selbst willen betreibt? Oder führen wir Krieg nicht deshalb, um in Frieden zu leben, sprechen wir Recht nicht deshalb, um die Gerechtigkeit in unserem Zusammenleben herzustellen? Wäre die Welt so vollkommen, wären die Menschen so gut geartet, daß auch ohne Kriegführung Frieden bestünde, daß auch ohne Gerichte die Menschen ihre Geschäfte gerecht regelten, was bliebe dann übrig als die so gewonnene Muße mit der

besten Musik, den würdigsten Tänzen, den schönsten Gesängen auszufüllen? Und was wir nur zur Abwendung der Übel tun, die so lange bestehen, als die Menschen ungerecht und schlecht sind, kann man das wichtiger nennen als das, was uns allein zu tun übrig bliebe, wenn die Menschen gerecht und gut wären, wenn also das Ziel erreicht wäre, um dessentwillen wir die sogenannten „wichtigen Dinge“ tun? Führen wir also nicht eigentlich den Krieg, und sprechen wir nicht eigentlich Recht, um in Muße tanzen, singen und musizieren zu können, und ist nicht das der Zweck und das eigentlich Wichtige im Leben — da wir ja doch angenommen haben, daß den Menschen, von denen wir reden, die unmittelbare geistige Erkenntnis, die denkende Anschauung der Wahrheit verschlossen ist,

und das Wahre und Geistige sich ihnen nur als das sichtbar Schöne offenbart, wie es sich in Tänzen und Gesängen, in Musik und Rhythmus darstellt?“ „Du hast eine sehr geringe Meinung von den Menschen“, sagt Megillos vorwurfsvoll dem Gastfreund.

„Verzeih mir“, antwortet der Gastfreund. „Auf Gott hinblickend und Göttliches empfindend, habe ich dies gesagt. Verglich ich denn nicht vorhin die Menschen mit Marionetten in den Händen der Götter, ein Spielzeug, von dem man Ernstes nicht verlangen kann und dessen einzige Aufgabe ist, mit harmonischen Bewegungen dem Zug der Götter zu gehorchen und vor ihnen schön zu spielen, gleichgültig, was der Inhalt dieses Spieles ist, da es ja nicht auf das Spiel selbst ankommt, sondern nur darauf, daß es, was immer es sei, schön und harmonisch und im Gehorsam gegen 1 die Götter durchgeführt werde?“

Gibt es uns nicht zu denken, daß Piaton selbst dort, wo er von den besten Gesetzen des vollkommensten Staates handelt, eine so geringe Meinung vom Staate hat, daß er in den wichtigsten Tätigkeiten des Staatslebens nur die Mittel zur Behebung von Übeln sieht, und sie — wären diese Übel behoben — an sich für weniger wichtig hält als das Abhalten von Reigentänzen und das Singen schöner Gesänge? Nicht, daß wir riun wirklich nichts anderes tun sollten als tanzen und singen, meint freilich Piaton mit diesem seltsamen Bilde seiner alten Weisheit. Kein blasierter Ästhetizismus verbirgt sich hinter diesem Bilde, sondern im Gegenteil ein lebendiges Gefühl für die alleinige Gültigkeit der sittlichen Werte. Er fieint, daß es bei keiner dieser Tätigkeiten auf das „Was“ der Tätigkeit ankommt, sondern darauf, daß sie, wie ein Spiel, ein Tanz, eine Musik, harmonisch und schön, vollkommen und dem Willen der Götter gemäß durchgeführt werden — daß sie eine Bewährung und eine Probe sind, um unsere Bereitwilligkeit zum Gehorsam gegenüber dem- Willen der Götter zu erweisen —, bis wir imstande sind, Besseres zu tun, nämlich das Göttliche nicht nur im Abglanze des sichtbar Schönen zu verehren, sondern Gott mit geistigem Anschauen unmittelbar zu erfassen. Kann man andererseits dem äußeren Handeln des Menschen überhaupt eine höhere und ewigere Bedeutung beilegen, als die, daß jede seiner Handlungen, auch die an sich unbedeutendste, den Wert und die Bedeutung einer sittlichen Bewährung vor Gott erhält? Und heißt es gering denken vom Staate, wenn man dem Staat zwar jeden eigenen Sinn, jede selbständige Zielhaftigkeit abspricht, die er ja dem Sittlichen gegenüber nicht besitzen kann, ihn aber doch als das Betätigungsfeld dieser Bewährung, als den Schauplatz dieses „Spielens vor Gott“ betrachtet? Ist der Mensch nun wirklich herabgesetzt durch diesen Vergleich oder ist nicht vielmehr das Höchste über ihn damit gesagt, was sich nur sagen läßt? Das rätselhafte Bild der Marionette gibt uns keine Antwort auf diese Frage.

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