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MAURIAC UND MOZART

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Beethoven und Wagner haben vor einem Jahrhundert die Sensibilität der musischen Franzosen derart angesprochen, daß Baudelaire und Mallanme, E. Bourges, Claudel und Romain Rolland in deren Musik ein Ideal des Humanismus und beinahe eine Art Mystik gesucht und gefunden haben. Das geistige Frankreich der letzten dreißig Jahre des 19. Jahrhunderts kann unmöglich verstanden werden, wenn man diesen Kristallisationspunkt nicht berücksichtigt. Beethovens Prometheisraus und Huimanitätsgefühl, Wagners Pessimismus und dumpfe Religiosität sind von der Geistes-geschichte der „belle epoque“ paradoxerweise untrennbar.

Mozarts Botschaft wurde damals kaum gehört, geschweige denn verstanden: die Musikhistoriker und die Soziologen werden uns eines Tages erklären, warum Mozarts Musik im 19. Jahrhundert — und nicht nur in Frankreich — in Vergessenheit geraten war. Der Mozartsche „Don Juan“ wurde zwar nicht ignoriert: E. T. A. Hoffmanns Begeisterung für Mozart und namentlich für „Don Juan“ hatte wohl die romantischen Kreise Frankreichs angesteckt und Theophile Gautier zu einsichtsvollen Feuilletons inspiriert. Mozart ist aber kennzeichnenderweise im ungeheuren Kosmos der Balzacschen „Comedie Humaine“ nicht zu finden, es sei denn als entfernter Vorläufer der italienischen Komponisten, die, zugleich mit G. Meyerbeer, die Pariser Opernbühne der Bürgermonarchie und des Second Empire beherrscht, wenn nicht monopolisiert haben.

Eine Mozart-Renaissance bahnt sich erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts an und hat seine Musik in den

Werken von Proust, Valery, Claudel und Girarudoux keine, oder höchstens eine sehr oberflächliche Resonanz gefunden, 80 gab es doch im Gegenteil französische Schriftsteller, die in Mozarts Persönlichkeit und Schaffen so tiefe Affinitäten mit ihrem eigenen Wesen und humanistischem Ideal empfanden, daß sie ihn ihrem Weltbild und ihrer Religiosität einverleibt haben als Zeuge und Paradigma eines Menschheitsideals, dem sie selbst zustrebten. Anzeichen dieser Idealisierung treten bei Gide, Duhamel, Charles du Bos auf. Albert Camus selbst hat 1956 eine ergreifende Danksagung an Mozart geschrieben. Unter allen Schriftstellern aber, die über Mozarts Schicksal, Musik und humanistische Botschaft meditiert haben, steht an erster Stelle Francois Mauriac.

Nicht daß der heute achtzigjährige Dichter ein Musiker oder ein Musikwissenschaftler ist. Ohne musikalische Ausbildung aufgewachsen und sogar von seiner Mutter für unheilbar unmusikalisch erklärt, gesteht er, aus seiner Jugendzeit nur sehr wenige musikalische Erinnerungen oder Erlebnisse behalten zu haben. Wohl sagt er mit dem Abstand der Jahre: „Meine Kindheit wurde von Musik durchtränkt.“ Er fügt aber hinzu:

„Das geschah jedoch ohne mein Wissen... Es war übrigens eine sehr schlechte Musik im Gymnasium, eine bessere freilich zu Hause, wo meine Mutter, die eine schöne Mezzosopranstimme besaß, Lieder von Schubert, Schumann, einige Wagner-Arien, vor allem aber jene Melodien von Ch. Gou-nod sang — ,Le soir', ,Le rossignol' —, die auf mich heute immer noch dieselbe Zauberkraft ausüben und das verlorene Paradies der Kindheit heraufbeschwören. Meine Mutter sagte: ,Unter allen meinen Kindern ist er der am wenigsten musikalische.' Ich glaubte es ihr aufs Wort. Die Romanzen, die wir zu Hause oder im Gymnasium sangen, nahmen in meinem geheimen Leben zwar einen großen Platz ein: aus ihnen konnte ich aber meine tiefe Sehnsucht nach Musik nicht erahnen... Lange Jahre habe ich geglaubt, daß ich für Musik nichts übrig hätte. Ich ging nur ungern in Konzerte: ich empfand dabei nur kurze Augenblicke der Freude. Ich langweilte mich und schämte mich darüber. In der Tat war es weniger Langeweile als mein Unbehagen im Konzertsaal: meine Beine, die ich nicht ausstrecken konnte, der Geruch der Menge, die Gesichter, die Handtaschen oder Lorgnons, die die Damen auf- und zuklappten, die ewigen Zuspätkommenden ...“

Eines Tages ist aber die Musik direkt in Mauriacs Zimmer gekommen, und mit ihr hat sich ihm ein unerforschtes Paradies des Herzens, der Seele und nicht zuletzt des Glaubens geöffnet. In den dreißiger Jahren hat das Schicksal plötzlich und grausam an seine Tür geklopft: Mauriac muß sich einer gefährlichen Operation unterziehen, denn eine Art Krebs hat seine Stimmbänder befallen. Ein Teil muß entfernt werden. Man zweifelt an seiner Genesung, man fürchtet für sein Leben überhaupt. In den langen Wochen seiner Rekonvaleszenz macht aber Mauriac die entscheidende Entdeckung der Musik und namentlich Mozarts. Der Vermittler ist der Schriftsteller und Freund, der eben ein Buch über „Trösterin Musik“ („La musique consolatrice“) geschrieben hat, Georges Duhamel. Er bringt Mauriac Schallplatten mit Werken von Mozart. Es ist dies eine schicksalhafte Begegnung: denn durch das Medium Mozart, der für ihn immer mehr zu einem einzigartigen menschlichen Phänomen, zu einem außerordentlichen Wunder, schließlich sogar zu einem Boten des Göttlichen wird, erblickt Mauriac, der am Rande der Verzweiflung ringt und im Dunkel nach dem Sinn seines bedrohten Lebens tastet, allmählich die Lösung und die Erlösung aus seiner seelischen Verworrenheit.

Es ist hier unmöglich, sämtliche Stellen aus Mauriacs Werken anzuführen, die seine Meditation über Mozart und dessen Musik widerspiegeln: eine solche Anthologie würde ein stattliches Buch ausmachen. Von 1937 an bis zu den letzten Seiten seines Tagebuchs, oder noch in seinen Essays und in seinen „Memoires Interieurs“, jedesmal wenn Mauriac, der sensible Gottsucher Mauriac, seine Erinnerungen an Mozart wachruft, dann fühlt der Leser das intime Vibrato eines zentralen Erlebnisses, das Echo einer entscheidenden Lebenswendung. Denn den eher schlechten Schallplatten der dreißiger Jahre sind Radiokonzerte gefolgt, und 1937 hat Mauriac den Salzburger Festspielen beigewohnt: er hat Toscanini („Don Giovanni“) dirigieren, vor allem aber Bruno Walter Mozarts Symphonien zelebrieren gehört, und dank des Salzburger Mozart-Quartetts der Kammermusik des Genius Loci andächtig und bewegten Herzens gelauscht. Aus diesen unvergeßlichen Erinnerungen scheint er heute immer noch zu schöpfen, um seine humanistische und mystische Meditation zu nähren. Denn Mozart selbst, als Mensch und als vollkommen unerklärliches Musikgenie ist für Mauriac das göttliche Kind überhaupt, eine unwahrscheinliche, aber konkrete, reelle Inkarnation der paradiesischen Unversehrtheit des Menschen.

Es ist dies weder billige Romantik noch ein Abglanz der Sehnsucht ä la Rousseau nach dem unzivilisierten Urmenschen. Denn der Mauriacsche Mozart kann eben dank seiner gnadenvollen Ingenuität auch dem Bösen hellsichtig und kaltblütig ins Gesicht blicken, ohne von ihm angetastet, ohne in seinem Glauben und in seiner Hoffnung erschüttert zu werden. Mozarts Don Juan mag wohl für Th. Gautier im 19. Jahrhundert oder für Pierre-Jean Jouve in unseren Tagen eine verführerisch-prometheische Figur sein, der Gott absichtlich provoziert. Mauriac empfindet auch das „große Leuchten, die Glorie jener C-Dur-Tonart, in der Mozart seinen Helden sterben läßt“. Er glaubt deswegen aber nicht, daß Mozart diesen satanischen Don Juan „geliebt hat“ (P. J. Jouve). Eben dadurch aber, daß der Mauriacsche Mozart ein Wunder der Schöpfung und der Gnade ist, kann er mit Don Juan kühn hantieren, in dem sein „unbarmherziger Kinderblick das Böse erkennt, den dem Bösen verfallenen Menschen“, dessen Geschick niemand aufhalten kann. Ein furchtbares, umwälzendes Schauspiel, gesteht Mauriac:

„Denn die Kraft des Bösen manifestiert sich hier mit ihrem ganzen Prestige. Jener behende, springende Don Giovanni, in dem jede Note ein Gefühl, eine Leidenschaft ausdrückt, diese Dramma giocoso, das der Schmerz schon in den ersten Takten durchdringt, dann die Furcht, die Angst vor dem Jenseits und der Übernatur, bis endlich Gott selbst sich mit niederschmetternder Evidenz offenbart, greift uns von so vielen Seiten zugleich an, daß es genügen würde, die so abgedroschene Gattung der Oper zu rehabilitieren. Don Juan, ein Held der opera buffa, stellt vor unseren Augen das Problem des Bösen auf. Dieser bezaubernde Schurke, dieser zynische und unwiderstehliche Grandseigneur: kann er hie-nieden andres tun, als eben das, was er tun muß? Als das Übernatürliche mitten in dieses frenetische Leben einbricht, zittert Don Juan nicht, weicht von seiner Linie um keinen Zoll ab. Mutvoll und kühn, waghalsig und frech, kann er nicht anders sein, als wie er eben ist. Zauberhaft in seiner Ahnungslosigkeit und Tollheit, kennt er keine andere Wahrheit als ,Wein, Weiber und Jugend': ihm kann es nicht von Nutzen sein, daß sich das Jenseits manifestiert, Denn nicht die Erkenntnis ändert den Menschen, sondern die Liebe. Don Juan ist verdammt, weil er unfähig ist zu lieben. Hat jemals eine Oper, außer ,Don Giovanni', in uns solche Überlegungen hervorgerufen? Darin, glaube ich, liegt ein ganzes potentielles Theater, ein Theater, das nicht nur ,Dichtung und Wahrheit', sondern auch .Metaphysik und Wahrheit' ist. Nicht Wagner ist es, der neue Wege erschlossen hat: das Wagnersche Drama ist eine Sackgasse. Selig ist der Mensch, der Mozart sein Geheimnis entreißen kann!“

Mauriac glaubt eben, Mozarts Geheimnis, zumindest einen Teil seines Geheimnisses, erobert zu haben. Daher ist Mozarts Musik, und insbesondere die Kammermusik der letzten Jahre, für den gequälten Gottsucher, der Mauriac ist, die unmittelbare Offenbarung des Kindergeistes vor dem Sündenfall, ein einzigartiges Zeugnis für die ursprüngliche menschliche Heiligkeit, und schließlich jener „zärtliche und herzzerreißende Vorwurf an Gott“, dessen Allmacht und Weisheit nicht erlaubt hat, daß seine Schöpfung unversehrt bleibt.

„Gewisse Musikkritiker“, schreibt Mauriac in seinem Tagebuch, „sind voll Verachtung für solche Amateure, die Musik hören, um sich daran zu erfreuen. Sie klagen dieses .Verbrechens' vor allem jene .unerfahrenen Neokonvertiten', jene Mozart-Verehrer an, welche in der Musik angeblich Vergessenheit suchen und sich eine Schallplatte vorspielen, um vor der Realität zu flüchten, gleich einem Neurotiker, der sich Morphium einspritzt. Es ist aber keine Lästerung, an die siegreiche Erquickung durch die übernatürliche Gnade zu denken, wenn uns die Entzückung ergreift, die alle Mozart-Freunde kennen, und es mag wohl geschehen sein, daß diese Entzückung zur Gnade zurückgeführt hat... Wenn er auch zur gegebenen Zeit leichtfertig und spitzbübisch sein kann, so führt Mozart mich doch immer zu mir selbst zurück, zur Selbstbesinnung. Dies ist so wahr, daß es — wenn ich so sagen darf — keine traurigere Freude gibt, als die Freude, die er uns geschenkt hat, die wir manchmal kaum ertragen können. Denn immer werden wir in uns selbst dem gegenübergestellt, was verloren ist und nur durch ein Wunder der göttlichen Liebe gerettet werden kann. Mozarts Musik ist eine köstliche, aber unsere Kräfe erschöpfende Rückkehr zu den Quellen. Denn der Weg zu der Quelle, die es wohl gibt, die da ist, ganz nahe, tief in unserem Innersten, ist verloren, auf immer verloren. Eine einzige Abkürzung würde uns zu ihr führen, wenn wir würdig wären, ihr zu folgen: die Heiligkeit, denn der Weg der Kindheit, auf den uns Mozart leitet, führt über Gott. Ich habe immer aus den Werken seiner letzten Lebenstage, zum Bespiel im Adagio des Klarinettenquintetts, so etwas wie einen sanften Vorwurf an Gott herausgehört, die Klage eines enttäuschten Kindes, jene Träne des Geschöpfs, wenn es sich betrachtet und mit dem vergleicht, was im Gedanken des Schöpfers ursprünglich war. Leben heißt fast für alle, sich von diesem Paradies entfernen, dessen Stimmen, Lachen und Lieder Mozart in einer herzaufwühlenden Musik eingefangen hat, einer Musik, die uns manchmal eine so furchtbare Freude schenkt, daß es vieler Kraft und vielen Mutes bedarf, um sie ohne Tränen anzuhören.“

Dieses subjektive Projizieren einer menschlichen Psyche in die demütig-andachtsvoll heraufbeschworene Seele Mozarts mag wohl einem nüchternen Beobachter als die Übertreibung eines romanischen, beziehungsweise katholischen Gemüts erscheinen, mehr noch: von dem angeborenen Gefühl der Tragik eines Menschen, der das existentielle Rätsel der conditio humana aufgreift und zu lösen versucht, Zeugnis ablegen. Im Fall Mauriac wird aber keine typisch und ausschließlich „katholische“ Sensibilität illustriert. „Man hat mich schon gefragt“, schrieb unlängst Karl Barth, „ob ich nicht von meiner theologischen Richtung her auf dem Feld der Musik ganz andere Meister (als Mozart) entdeckt haben müßte. Ich habe zu bekennen: Nein, es handelt sich um diesen und keinen anderen. Ich habe zu bekennen, daß ich seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst der Dogmatik zuwende. Ich habe sogar zu bekennen, daß ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde ...“

Mauriacs Deutung der geistigen und religiösen Aussage von Mozarts Werken stimmt jedenfalls in manchen Aspekten mit dem Gefühl der Melancholie und mit der beinahe schwermütigen Lebensfreude überein, die auch die germanische Seele in Schuberts Werken zu finden scheint. Mauriacs Interpretation ist aber keine dilettantische Spielerei eines verspäteten Romantikers: es ist dies der einzigartige und geheimnisvolle Versuch eines Menschen, das Göttliche in einer Person zu erleben, mit Gott durch das Medium des lebenden Schönen in existentiellen Kontakt zu kommen; es ist dies die nie aufgegebene Hoffnung, über jede Antinomie des Lebens, über den Skandal des Bösen, über die Ausweglosigkeit der menschlichen Liebe, über das unerforschliche Mysterium des Daseins hinaus, die Beziehung vom Du zum Du, die Kommunion, wiederherzustellen und mitzuerleben.

Es bleibt immerhin bemerkenswert, daß es keinen anderen Musiker als Mozart gegeben hat — zumindest vom Standpunkt eines französischen Dichters aus —, der so sehr zum Gewissenswert, zur Antwort auf eine Frage an das Schicksal, auf das ewige „Warum?“ des Menschen an Gott, geworden ist. Und dies, wohl gemerkt, gar nicht durch seine sakrale Musik, die die Franzosen vielleicht lieber im Konzertsaal als in der Kirche hören, sondern durch die ganz primäre Wirkung des geheimnisumwobenen und zugleich sonnenklaren musikalischen Phänomens, das Wolfgang Amadee Mozart stets war und immer bleiben wird.

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