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Meeresstille und glückliche Fahrt

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Reisen, in der Bahn, mit dem Schiff, im Wagen, im Flugzeug reisen, bedeuief, einem Ziel entgegensehen und in dem Wandel der Umwelt das Lebensgefühl erhöhen. Ein Reisen um des Reisens willen gibt es nicht ohne ein gutes Maß an Geruhsamkeit. Wo fände sich der Wandel der Umwelt besser mit Geruhsamkeit verschmolzen als auf dem Schiff? Auf dem Schiff, das nicht an Telegraphenmasten und Meilensteinen seine Eile erweist, da auch die rascheste Seefahrt immer durch dasselbe Medium geht, durch das stille oder leicht atmende oder in Wellen steigende und fallende Meer, durch Ruhe also oder durch Rhythmus, ohne die Merkzeichen der Hast. Blofj die ferne Küste gleitet vorüber, aber auch sie ohne Unrast. Nur wenn du sie, indem du ein Auge schlief)), anvisierst, erkennst du ihr Gleiten.

Vergiß nicht, daß das Schiff ein auf das abgründige, tückische Wasser gestelltes Haus isfl Werde des Wunders bewufjf, das Menschengedanken und Hände geschaffen haben! Nimm's nicht mit hochmütigem Gleichmut als selbstverständlich hin!

Unsere Urvorväter sind auf gehöhlten Baumstämmen und auf Flögen über die Gewässer gefahren. Heufe bringt dich ein guter Gasthof aus dem Hafen hinaus. Du hast hier dein kleines Zimmer mit Bett, Schrank und fließendem Wasser und in der Ecke einen freundlich kühlenden Ventilator. Du betrittst einen geräumigen Speisesaal, und ein eifriger Steward bietet dir eine Mahlzeit an, die du niemals vom Anfang bis zum Ende vertilgen kannst, auch wenn dich die Seeluft noch sosehr mit Eßlust begnadet hat. Du kannst in einem Rauchsalon mit den Fingern am Knopf des Radioapparats den ganzen Lärm der Welt hereinholen und wieder verscheuchen.

Immer aber, an dem Bett deiner Kajüte, an deinem Speisetisch, an dem Rauchtisch, strömt durch die Luken und Fenster das Licht eines großen reinen Himmels, den nicht Häuser und Berge einengen, eines Himmels, der mit der See eine unirdische Einheit bildet, tags in der blauen, blauen Fülle, nachts in der mystischen Verbundenheit des Oben und des Unten, über der die Unzahl der Sterne steht.

Trittst du aber aus den Wänden deines schwimmenden Gasthofs hinaus, auf das Deck, begrüßt von der heiteren Brise, dem sanften Lächeln des Fahrwinds, dann wirst du selbst ein Teil der Einheit von Himmel und Wasser. Du läßt dich in einem Liegestuhl nieder, an einer Stelle des Decks, die dich vor Sonne und Wind behütet. Die Freude der Geruhsamkeit ist jetzt ohne Grenzen. Die Zeit hat jenes eine Attribut verloren, das sie uns und im besonderen uns Heutigen zu einem Peiniger werden läßt, eben die Grenze, das Ende. Wie Meer und Himmel grenzenlos sind — die Kimmung, an der sie sich berühren, bildet ja nur eine unwirkliche Kreislinie —, so versinkt hier völlig die Grenze des Körperlichen und der Zeit. Aus dieser unermeßlichen Freiheit, dieser erlösenden Abkehr von den lastenden Begriffen der Grenze und des Endes erwächst das Glück der Meeresfahrt.

Die Stille wird uns wohlig bewußt durch das leise Stampfen der Schiffsmaschine. Es ist ein fernes, tiefes und dumpfes Tönen im Vierviertelfakt, wie der schwere Rhythmus eines slawischen Tanzes. Darüber, höher klingt das helle Rauschen des Wassers an den hingleitenden Schiffswänden.

Möwen folgen uns. Ihr Flug ist leicht, hurtig und wendig, sie umkreisen uns, als stünde der Dampfer still. Selbst ohne Flügelschlag sind sie rascher als die Mäste, über denen sie hoch oben segeln. Dann lassen sie sich herab, fliegen knapp über dem Wasser, gleiten an den breiten, flachen Wellen auf und ab, immer dicht über Wellenberg und Wellental, und setzen zuletzt auf dem Meere auf. Sie schaukeln mit den Wellen und bleiben nun hinter uns zurück.

Das dunkle Dreieck einer Rückenflosse ragf jetzt aus der See, dort noch eins, dort ein drittes, ein viertes und mehr! Dann springt ein langes, braunes Etwas halb heraus, und dort, dort schnellt ein ganzer großer Körper über das Wasser hin, schwebt, schwebt und saust in die Tiefe, verschwindet wieder zwischen dem Auf und Nieder der Rückenflossen ringsum — eine Herde spielender Delphine.

Hatten wir daheim nicht jede Stunde des Tages einem Plane unterworfen? Arbeit, Unterredungen, Arbeit, und selbst von der freien Zeit nur soundso viel dem Lesen eines Buches zugewiesen oder dem Gespräch mit Freunden oder einem Theaterbesuch, dessen Beginn genau feststeht. Der Tag und auch die Nachtruhe gehen nach dem Uhrzeiger. Hier aber auf dem Schiff fließen die Stunden ohne Einschnitt, ohne Absatz ineinander, nur eben die Sonne und ihr Auf und Nieder (oder der Gong zur Essenszeit) bestimmt mild den Ablauf der schönen Tage.

Wer daheim mit hastigen Blicken auf die Armbanduhr die Zeit prüft, die ihm zwischen dem Drängen der Arbeit für einen Imbiß oder für ein paar Seiten Lektüre bleibt, der lebt auf dem Schiffe im Paradies der Zeitlosigkeit. Wer in der Stadt die Minuten gezählt hat, die dieser und jener Weg ihm raubt, sieht hier Stunde um Stunde den Möwen zu. Dies köstliche Nichtstun ist reicher als manche Rastlosigkeit, es reinigt unser Denken und unser Herz, das scheinbare Nichts ist der beste Keim für die Zukunft.

Am Abend verwandelt sich das Blau in flüssiges Silber. Das Wesenlose des Himmels ist zum Spiegel der untergegangenen Sonne geworden. In diesen Spiegel verwandelt sich zugleich die See. Keine Kimmung gibt es mehr, nur das ungeheure Silber ringsum. Und darin schweben jetzt zwei Formen, ein Leuchtturm, der weif vor dem Küsfenstreifen auf einer Klippe steht, und ein Schiff, das uns begegnet. Sie beide schweben in dem flüssigen Silber dieser allumfassenden stillen Welt.

Mit einem Blinkfeuer meldet sich wieder die Küste. Licht um Lichf gehf auf, das ferne dunkle Land wird in seinen Lichtern sichtbar. Die Nacht zündet sie an, Hafen und Küstenhöhen tragen jetzt die irdischen Sterne der Straßen und Häuser. Wie die himmlischen Sterne glitzern und funkeln sie. Aber sie sind dicht aneinandergedrängt. Es ist das verwirrende Bild eines ungeheuren Brillanfschmucks.

Fahr vorüber, Schiff! Das Land hat Grenzen, hinter dem Lebendigen steigt das Ende auf. Die See aber kennt keine Grenzen und kein Ende. Wir spüren nichfs als Meeressfille und glückliche Fahrt.

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