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MEERFAHRT MIT DON QUIJOTE

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An Bord

Wir haben gedacht, wir wollten zunächst einmal in der Bar einen Wermut trinken, und das tun wir nun, in stiller Erwartung der Abfahrt. Dies Heft und eines der vier orangefarbenen Leinenbändchen des „Don Quijote“, der mich begleitet, habe ich aus der Handtasche genommen; mit dem weiteren Auspacken hat es keine Eile. Wir haben ja neun bis zehn Tage vor uns, ehe wir bei den Gegenfüßlern aussteigen; es wird wieder Sonnabend werden und Sonntag wie morgen, dazu noch Montag und Dienstag, bis dieses gesittete Abenteuer zu Ende geht — schneller tut der behäbige Holländer es nicht, dessen Planken wir vor kurzem beschritten haben. Warum sollte er auch? Das Zeitmaß, mit dem seine sympathische Mittelgröße es hält, ist ohne Frage natürlicher und gesünder als die schütternde Rekordsucht jener Kolosse, die in sechs oder gar vier Tagen die ungeheuren Weiten durchrasen, die vor uns liegen. Langsam, langsam ... Gut Ding will Weile haben. Auch groß Ding will das, anders gesagt: der Raum will seine Zeit. Daß eine Art von Hybris, etwas Frevelhaftes darin liegt, ihm eine Dimension zu stehlen oder sie ihm zu verkümmern, nämlich die ihm natürlich verbundene Zeit, ist mir ein vertrautes Gefühl. Goethe, der gewiß ein Freund des Menschen war, aber die künstliche Steigerung seiner Wahrnehmungsfähigkeit, Mikroskope und Fernrohre, nicht liebte, hätte wohl diesen Skrupel gebilligt. Freilich fragt sich, wo dann die Grenze des Sündhaften liegt und ob zehn Tage nicht ebenso schlimm sind wie sechs oder vier. Frommerweise müßte man dem Ozean ebenso viele Wochen darangeben und mit dem Wind reisen, der eine Naturkraft ist — und das ist auch die Dampfkraft. Übrigens heizen wir mit Öl. — Aber das alles fängt an, nach Gedankenflucht auszusehen.

Erklärliche Erscheinung. Sie ist ein Merkmal heimlicher AufreÄ'M'fe^infach~T^iif«t& ^'Jeln WxmSäif'

Meine Jungfemfahrt über den Atlantik, die erste Be^inung und Bekanntschaft mit dem Weltmeer steht mir bevor, und am Ende, jenseits der Erdkrümmung, über die das Riesenwasser sich zieht, erwartet uns Neu-Amsterdam, die Weltstadt. Solcher gibt es vier oder fünf, und sie bilden eine Sonder- und Monstergattung des Städtischen, übermäßigen Stils und heraustretend auch aus der Klasse der Großstädte, ähnlich wie im Bereich der Natur und des Landschaftlichen die Kategorie des Erz- und Elementarnatürlichen, Wüste, Hochgebirge und Meer, sich ungeheuerlich absondert. Ich bin an der Ostsee erwachsen, einem provinziellen Gewässer, und meine Blutsüberlieferung ist alt-und mittelstädtisch, eine mäßige Zivilisation, deren nervöse Einbildungskraft den Ehrfurchtsschrecken kennt vor dem Elementa-lischen — und auch seine ironische Ablehnung. Iwan Gontscha-row wurde während eines Sturmes auf hoher See vom Kapitän aus seiner Kajüte geholt: er sei ein Dichter, er müsse das sehen, es sei großartig. Der Verfasser des „Oblomow“ kam an Deck, sah sich um und sagte: „Ja, Unfug, Unfug!“ Dann ging er wieder hinunter. Beruhigend wirkte der Gedanke, daß wir der Großwildnis im Bunde mit der Gesittung und in ihrem Schutze begegnen werden: auf diesem guten Schiff, dessen Wandeldecks, lackierte Kabinenkorridore, Salons und teppichbelegte Treppen wir eben flüchtig besichtigten und dessen wackere Führer und Mannschaft überhaupt nichts anderes gelernt haben, als das Element zu meistern. Es wird uns hindurchtragen, wie der weiße Luxuszug mit blauen Fensterscheiben den Khartumreisenden durchs Gräuliche trägt, zwischen den toddrohenden Gluthügeln hindurch der Libyschen und der Arabischen Wüste... „Aussetzung“ — man braucht nur an das Wort zu denken, um zu empfinden, was das ist: das Geborgensein in der menschlichen Zivilisation. Ich achte denjenigen nicht hoch, der im Anblick der Elementarnatur sich nur der lyrischen Bewunderung ihrer „Großartigkeit“ überläßt, ohne sich mit dem Bewußtsein ihrer gräßlich gleichgültigen Feindseligkeit zu durchdringen... Der Gedanke der Ungestörtheit bringt mich wieder auf meine Reiselektüre, das orangefarbene Bändchen, das, Teil nur eines weitläufigen Ganzen, neben mir liegt.

Reiselektüre — ein Gattungsbegriff voller Anklänge der Minderwertigkeit. Die Meinung ist weitverbreitet, was man auf Reisen lese, müsse vom Leichtesten und Seichtesten sein, dummes Zeug, das „die Zeit vertreibe“. Ich habe das niemals verstanden. Denn abgesehen davon, daß sogenannte Unterhaltungslektüre zweifellos die langweiligste auf Erden ist, will mir nicht eingehen, warum man gerade bei so festlich-ernster Gelegenheit, wie eine Reise sie darstellt, unter seine geistigen Gewohnheiten hinabgehen und sich aufs Alberne verlegen sollte. Ist etwa durch die enthobene und gespannte Lebenslage des Reisens eine Seelen- und Nervenverfassung geschaffen, in der das Alberne weniger anwidert als gewöhnlich? Ich schrieb vorhin vom Respekt. Da ich Achtung habe vor unserem Unternehmen, ist es recht und angemessen, daß ich auch die Lektüre achte, die es begleiten soll. Der „Don Quijote“ ist ein Weltbuch — für eine Weltreise ist das gerade das Rechte. Es war ein kühnes Abenteuer, ihn zu schreiben, und das rezeptive Abenteuer, das es bedeutet, ihn zu lesen, ist den Umständen ebenbürtig. Befremdlicherweise habe ich die Lesung noch nie systematisch zu Ende geführt. Ich will es tun an Bord und mit diesem Meer von Erzählung zu Rande kommen, wie wir zu Rande kommen werden binnen zehn Tagen mit dem Atlantischen Ozean.

Die Ankerwinde lärmte, während ich diesem Vorsatz schriftlichen Ausdruck gab. Wir fahren. Wir wollen auf Deck gehen, um zurückzublicken und vorwärts...

Den 25. Mai 1934 ... Das Abenteuer mit den Löwen ist unstreitig der Höhepunkt von Don Quijotes „Tathandlungen“ und im Ernst wohl der Höhepunkt des ganzen Romans — ein herrliches Kapitel, mit einem komischen Pathos, einer pathetischen Komik erzählt, die die echte Begeisterung des Dichters für das heroische Narren-tum seines Helden verrät. Ich las es gleich zweimal, und unaufhörlich beschäftigt mich sein eigentümlich bewegender, großartig lächerlicher Gehalt. Die Begegnung mit dem bewimpelten Karren, auf dem sich die afrikanischen Bestien befinden, „die der General von Oran Seiner Majestät zum Präsident an den Hof schickt“, ist schon als Kulturbild reizend.

Die klassische, hundertmal im Bild festgehaltene Szene, wie der hagere Hidalgo, der von seiner Mähre gestiegen ist, weil er besorgt, daß ihr Mut dem seinen nicht gleichkommen möchte, mit seinem schlechten Schild und Schwert, zu dem absurdesten Kampf bereit, vor dem geöffneten Käfig steht und „mit kalter Aufmerksamkeit“ die Bewegungen des riesigen Löwen betrachtet, voll heroischer Ungeduld, mit dem „handgemein“ zu werden — diese außerordentliche Szene ist mir in den Worten des Cervantes wieder recht lebendig geworden, nebst ihrem Fortgange, der die so glimpfliche wie blamable Zurückweisung und Auflösung von Don Quijotes Heldenattitüde bringt. Denn der edle Löwe, auf Possen und kühne Streiche nichts gebend, wendet ihm nach kurzem Blick einfach „seine hinteren Teile“ zu und legt sich mit großer Kaltblütigkeit und Ruhe in seinem Käfig wieder zu Boden. Der Heroismus ist auf die nüchternste Weise abgeblitzt. iAIle^w^Jie.Idee 4fifeV^iSR|raÄbjt&#171;5ejdeBs-an! kläglicher LächeN lichkeit enthält; kommt hier auf.Doh Quijotes.;Haupt durch'<3as .^eringscfiätsig-gleichmlitige rBsniehman dei^irusjdstätisclien Kr&#171;?;, tur Auch ist er außer sich darüber. Er verlangt von dem zitternden Wärter, daß er den Löwen durch Schläge zum Aufstehen und Angreifen bringe. Dessen weigert der Mann sich denn aber doch und macht dem Ritter begreiflich, daß sich die Größe seines Herzens schon hinlänglich gezeigt habe: Kein braver Kämpfer sei zu mehr verpflichtet, als seinen Gegner herauszufordern und ihn im freien Feld zu erwarten; wenn dieser kneife, so falle der Schimpf auf ihn, und so weiter. Das läßt denn Don Quijote sich schließlich gefallen und steckt dasselbe Taschentuch, womit er sich den Käseschweiß abgetrocknet, als Siegeszeichen auf seinen Speer, worauf der davongelaufene Sancho, der es von ferne sieht, sagt: „Ich will sterben, wenn mein Herr nicht die wilden Bestien überwunden hat, denn er ruft uns dort.“ Es ist wundervoll.

An keiner Stelle wird die radikale Bereitschaft des Dichters, seinen Helden zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen, deutlicher als hier. Erniedrigung und Erhöhung aber sind ein Begriffspaar voll christlichen Empfindungsgehaltes, und gerade in ihrer psychologischen Vereinigung, ihrem humoristischen Ineinanderfließen zeigt sich, wie sehr der „Don Quijote“ ein Produkt christlicher Kultur, christlicher Seelenkunde und Menschlichkeit ist und was das Christentum für die Welt der Seele, der Dichtung, für das Humane selbst und seine kühne Erweiterung und Befreiung denn doch ewig bedeutet. Ich muß an meinen Jaakob denken, der vor dem Knaben Eliphas im Staube gewinselt hat, und, über und über entehrt, sich aus der Tiefe seiner letztlich ungedemütigten Seele im Traume die große Haupterhebung schafft. Sagt, was ihr wollt: das Christentum, diese Blüte des Judentums, bleibt einer der beiden Grundpfeiler, auf denen die abendländische Gesittung ruht und von denen der andere die mediterrane Antike ist. Die Verleugnung einer dieser Grundvoraussetzungen unserer Sittlichkeit und Bildung, oder gar ihrer beider, durch irgendeine Gruppe der abendländischen Gemeinschaft würde ihr Ausscheiden aus dieser und eine unvorstellbare, übrigens gottlob gar nicht vollziehbare Zurückschraubung ihres humanen Status, ich weiß nicht, wohin, bedeuten. Der hektische Kampf Nietzsches, dieses Bewunderer Pascals, gegen das Christentum war eine unnatürliche Exzentrizität und mir im Grund von je eine Verlegenheit — wie manches bei diesem rührenden Helden. Goethe, glücklicher ausgewogen und psychisch freier, hat sich durch sein „dezidiertes Heidentum“ nicht hindern lassen, dem Christentum die ausdrucksvollsten Huldigungen darzubringen, es als die sittigende Macht, die es ist, und also als Verbündeten zu empfinden. Aufgeregte Zeiten, wie die unsrige, die immer dazu neigen, das bloße Epochale mit dem Ewigen (zum Beispiel Liberalismus und Freiheit) zu verwechseln und das Kind mit dem Bade auszuschütten, halten jeden Ernsteren und Freieren, der nicht nur im Zeitwinde flattert, dazu an, auf die Grundlagen zurückzugehen, sie sich wieder bewußt zu machen und abweisend auf ihnen zu bestehen. Die Kritik, die das Jahrhundert am Christlich-Moralischen übt (von Dogma und Mythologie zu schweigen), die lebensgefühlsmäßigen Korrekturen, die es daran vornimmt, bleiben, so tief sie reichen, so umgestaltend sie wirken mögen, Oberflächenbewegung. Das Unterst-Bedingende, Bestimmende und Bindende, die kulturelle Christlichkeit des abendländischen Menschen als das einmal Errungene, hie zu Veräußernde berühren sie gar nicht.

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