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Mehr als ein Bierulk

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Niemand kann leugnen, daß der vor einem halben Jahrhundert so sehr bekämpfte und verachtete Dadaismus von Neuem einen großen Einfluß auf die Literatur aller Avantgarden gewonnen hat. Wenn man zu seiner Zeit Dada jeden Geist ableugnete und ihm Bierulk und Degeneration vorwarf, so hat es sich erwiesen, daß „Dada mehr war als Dada“, und daß die in ihm enthaltenen Möglichkeiten einer Erneuerung und Umwandlung des Denkens und Dichtens sich gewissermaßen „unterirdisch“ einen Durchbruch schaffen konnten. Der Neodadaismus, Popart und Konkretdichtung haben in Europa und beiden Amerika eine unerwartete Verbreitung gefunden, und besonders die neue deutschsprachige Literatur ist in größte Abhängigkeit der von den Dadaisten gefundenen intellektuellen und experimentellen Prinzipien gegenüber einer unfortschrittlichen herkömmlichen Schreibweise gekommen. Es gibt dafür vielerlei historische Belege. Es handelt sich in jeder Kunst um die Bemühung, das Objekt, also die endliche Identität, möglichst direkt zu erfassen, was noch nicht in realistisch-pragmatischem Sinn zu „Naturalismus“ führen muß, oder um die unendliche Gestalt, die individuelle Form, die seit dem Jahrhundertanfang zum Hauptthema der literarischen Betrachtungen geworden war.

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Niemand kann leugnen, daß der vor einem halben Jahrhundert so sehr bekämpfte und verachtete Dadaismus von Neuem einen großen Einfluß auf die Literatur aller Avantgarden gewonnen hat. Wenn man zu seiner Zeit Dada jeden Geist ableugnete und ihm Bierulk und Degeneration vorwarf, so hat es sich erwiesen, daß „Dada mehr war als Dada“, und daß die in ihm enthaltenen Möglichkeiten einer Erneuerung und Umwandlung des Denkens und Dichtens sich gewissermaßen „unterirdisch“ einen Durchbruch schaffen konnten. Der Neodadaismus, Popart und Konkretdichtung haben in Europa und beiden Amerika eine unerwartete Verbreitung gefunden, und besonders die neue deutschsprachige Literatur ist in größte Abhängigkeit der von den Dadaisten gefundenen intellektuellen und experimentellen Prinzipien gegenüber einer unfortschrittlichen herkömmlichen Schreibweise gekommen. Es gibt dafür vielerlei historische Belege. Es handelt sich in jeder Kunst um die Bemühung, das Objekt, also die endliche Identität, möglichst direkt zu erfassen, was noch nicht in realistisch-pragmatischem Sinn zu „Naturalismus“ führen muß, oder um die unendliche Gestalt, die individuelle Form, die seit dem Jahrhundertanfang zum Hauptthema der literarischen Betrachtungen geworden war.

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Der deutsche Dadaismus hatte zu diesen Problemen selbst Stellung genommen. In dem Manifest „Dada ist mehr als Dada“ von 1920 stand zu lesen:

Ist es nicht überaus müßig, die Frage nach der Dimensionalität oder A-Dimensionalität zum Beispiel der Zahl überhaupt zu stellen? Denn so a-loßisch dies ehrenwerten Gehirnen erscheinen mag, hat die Sachlage, die ein Zahlgedanke vorstellt, unweigerlich Relationen zur Lebensform unserer Welt als einer dimen-sionalen Welt. Gibt es überhaupt Dimensionen, so können wir uns nichts, auch nichts bloß Angenommene oder Gedachte adimensional vorstellen.

Durch diese Stellungnahme sonderte sich Dada aus der expressionistischen Bewegung aus und erreichte eine „schöpferische Indifferenz“, deren Schatten und Geister in der neuesten deutschen Literatur heute noch fortwirken. Wenn man aber die Neodadaisten, die Popartisten und die Konkretisten darnach fragt, welchen Einfluß Dada auf sie gehabt hat, so müssen sie notgedrungen unzutreffende Antworten geben. Die Mehrzahl unter ihnen ist zwischen 1910 und 1930 geboren, später, als diese „Jungen“ etwa 20 oder 30 Jahre alt waren, wußten sie kaum etwas über Dada, denn die nationalsozialistische Epoche hatte alle Spuren vernichtet. Wenn man sich also heute im deutschen Sprachgebiet auf dadaistische Tendenzen und Einflüsse beruft, so haben diese Berufungen nur äußerst wenig mit dem deutschen Dadaismus zu tun, denn man orientierte sich sei:, etwa 1958, zur Zeit der großen Dada-Ausstellungen in Düsseldorf und Frankfurt, noch vorwiegend in den Büchern, die in USA und Paris erschienen waren.

Wenn Hugnet als alleinige und „originale“ Schöpfer Dadas Tzara, Ball, Arp und Huelsenbeck erklärt, so war der Ruhm des „Gründers“ Tzara dem Dichter Huelsenbeck ein Dorn im Auge, denn er wollte das Wort „DADA“ allein gefunden haben — und außerdem der erste Existentia-list gewesen sein. So veranlaßte er das Erscheinen des von Motherwell besorgten Buches „Dada-Painter and Poets“ 1951 ! bei Witteinborn und Schulz In New York, in dem er neben Arp und Duchamp sowie Picabia die Hauptrolle spielt. Man kann also nicht behaupten, daß die Kenntnisse der Neodadaisten, Popartisten und Konkreten über Dada „sehr weit her“ waren. Sollten sich die Kenntnisse der deutschsprachigen Dichter und Maler auf das Buch, das Huelsenbeck 1958 uhter dem Titel „Mit Witz, Licht und Grütze“ erschienen ließ, beschränken, so könnten sie nur einen sehr schwächlichen Eindruck von Dada zurückbehalten haben und es ist dann nicht verwunderlich, daß sie erklären, Dada weit überholt zu haben.

Es scheint aber, daß der größte Einfluß von Kurt Schwitters und seiner MERZ-Kunst ausging, obzwar Schwitters weder in den Büchern von Hugnet, noch von Motherwell, noch von Verkauf seiner wirklichen Bedeutung nach erscheint. Wenn heute die Konkretdichter glauben, mit Arno Holz und Gertrude Stein ihre Methode erklären zu können, so ist darauf hinzuweisen, daß Schwitters in Werken wie „Franz Müllers Drahtfrühling“ (wahrscheinlich 1923), oder „Die große Revolution in Revon“ (1919) oder mit Wartgruppierungen wie „Ci-garren“ (1923) ganz selbständig und von Holz oder Stein unbeeinflußt alles das vorwegnahm, was man heute als Konkret- oder Pop-Dichtung bezeichnet. Und dies zwischen 1918 und 1923! Nur: Schwitters hatte diese Art zu dichten, er machte keine Manier daraus. Schwitters schrieb mir 1946 aus London: „Du weißt, ich liebe den sanften Blödsinn“, und diese Einstellung entfernt ihn weit von Gertrude Stein, die sehr manieriert war. Es ist sicher, daß weder Schwitters noch Gertrude Stein jemals die Erklärungen von Novalis über das „Daherreden“, das die besten Einfälle hervorruft, und die mathematische Bedeutung der Sprechformen und ihrer Anwendungen gelesen haben, dennoch war bei Gertrude Stein sicherlich mehr berechnende Absicht vorhanden als bei Schwitters. Wenn vielleicht, äußerlich gesehen, eine Verwandtschaft zwischen dem unbändigen Redefluß von Schwitters und dem schizophren-katatonischen Beharren auf denselben Worten bei Gertrude Stein bestehen könnte, so liegt doch der Unterschied darin, daß Schwitters ein „folklorer“ Humorist war, während Gertrude Stein sich mit voller Absicht durch berechnete „Abstraktionen“ von aller anderen Literatur unterscheiden wollte.

Wenn die Stuttgarter Gruppe mit ihrer „Experimentellen Schreibweise“ auf der „Wissenschaftlich-keit“ ihres Verfahrens besteht und selbst erklärt, die Art Textbehandlung müsse auf die Dauer langweilig erscheinen, so waren Schwitters und Stein unbedingt nicht von solchen Gesichtspunkten ausgegangen. Schwitters war als Dichter voll von Einfällen, ich habe ihn oft aus nächster Nähe schreiben gesehen, er war unaufhaltsam mit Ideen zu neuen Skurrilitäten beschäftigt, er strömte über davon.

Mathematische Berechnungen für seine Wortbildungen lagen ihm meilenfern. Selbst die sehr „berechnende“ Gertrude Stein war weniger berechnend, als das hinterher erscheinen mag.

Schließlich und endlich sind auch die konkreten Dichtungen dem Einfall unterworfen und können nichts gegen den synkopischen Charakter unserer modernen Denk- und Vorstellungsart, die viel mehr vasomotorischen Einflüssen unterworfen ist, als sie sich dies zugestehen möchte. Will man Worte nur nach ihrem „Zahlwert“ und ihrem „Zeichenwert“ topologisch gruppieren, so erhält man vielleicht eine Stilübung, die sich oberflächlich dem Prinzip des Schachspielens annähert. Mit diesen Ausführungen wird aber keineswegs die Möglichkeit, ja selbst die Notwendigkeit, das Wort unsemantisch, objektiv zu behandeln, geleugnet, denn in der phonetischen oder selbst lettristischen Dichtung, die um 1910 in Rußland von Chleb-nikov, um 1916 bis 1918 in Deutschland von Ball und Hausmann begründet wurde, wird das Wort durchaus seines herkömmlichen Sinnes bis auf seine „lettrischen“ Bestandteile entkleidet und ihm dadurch ein neuer, abstrakt-konkreter Wert verliehen.

Aber selbst das phonetisch-lettri-stische Gedicht, das sogar als Erstes einen optophonetisch-topologischen Charakter annahm, bleibt weit vom Schachspiel entfernt. Nicht einmal von der Wortalchimie Joyces, der hauptsächlich mit Veränderungen der semantischen und semiotischen Werte durch Einschalten von Affixen und Suffixen arbeitete, könnte man sagen, daß seine Schreibweise wissenschaftlich-experimentell gewesen sei.

Vielleicht aber zeigen die dadaistischen und konkret-abstrakten Schreibweisen gerade das Gegenteil der behaupteten Begriffsveränderungen an: nämlich, daß unser gesamtes Sprechen und Schreiben seit Jahrhunderten von zu festen Regeln beschränkt wurde, derer der Sprachgeist in einer neuen Epoche physi-kalisch-atomistischer Erkenntnisse ;:ch entledigen muß.

Um den Vorgang der Belehrung zu verkleiden, war die Literatur, als sie die Hagiographie mit Homer verließ, zur Unterhaltungsliteratur geworden, die sich eine Ästhetik des „wahren Schönen“ und der „schönen Wahrheit“ gezimmert hatte.

Dada, nach zweitausend Jahren, brach mit diesen Fälschungen der menschlichen Sachlage — die Unterhaltung und die Ästhetik, die doch nur pragmatischen Absichten dienten, waren zugunsten einer mit Ironie gepaarten Indifferenz verlassen worden.

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