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Meine erste Erzählung

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Es war Im Mai 1845. Anfang des Winters begann ich plötzlich „Arme Leute“, meine erste Erzählung, zu schreiben, ohne vorher je etwas geschrieben zu haben. Nachdem ich sie beendet hatte, wußte ich nicht, was damit anfangen und wem sie bringen. Bekannte in literarischen Kreisen hatte ich nicht, es sei denn D. W. Grigo-rowitsch. Als er bei mir zu Besuch war, sagte er:

„Bringen Sie mir das Manuskript: Nekrassow will nächstes Jahr eine Anthologie herausgeben, ich zeige es ihm.“

Ich brachte ihm das Manuskript, sah Nekrassow einen Moment, und wir schüttelten uns die Hände. Ich war verlegen bei dem Gedanken, meine Arbeit gebracht zu haben, und ging bald wieder fort. Fast ohne Nekrassow gesprochen zu haben. Ich dachte wenig an Erfolg. Belinski las ich schon seit einigen Jahren mit Begeisterung, aber er erschien mir streng und unheimlich; manchmal fragte ich mich, ob er meine „Armen Leute“ wohl verspotten werde. Nur selten aber — ich hatte mit so viel Leidenschaft, fast unter Tränen geschrieben — kam mir der Gedanke, ob es denn möglich wäre, daß all das, all diese Minuten, die ich mit der Feder in der Hand an dieser Erzählung verbracht hatte, daß all das Lüge, eine Fata Morgana, unechtes Gefühl gewesen sein sollte.

Am Abend des Tages, an dem ich das Manuskript abgegeben hatte, ging ich irgendwohin, weit weg, zu einem meiner früheren Kameraden; wir sprachen die ganze Nacht von den „Toten Seelen“ und lasen sie, ich weiß nicht zum wievielten Male. Ich kam erst um vier Uhr nach Hause, durch eine weiße, fast taghelle Petersburger Nacht. Es war ein herrliches, warmes Wetter. Zu Hause angekommen, ging ich nicht schlafen, sondern öffnete das Fenster und setzte mich davor. Plötzlich läutete es zu meiner großen Uber-raschung. Grigorowitsch Und Nekrassow stürzten herein und umarmten mich ganz außer sich. Beide sind 4em Weinen nahe. Sie waren am Abend früh nach Hause gekommen und hatten mein Manuskript vorgenommen, um einen Versuch zu machen: „nach zehn Seiten kann man schon etwas sehen“. Nachdem sie zehn Seiten gelesen hatten, entschlossen sie sich, noch zehn zu lesen, konnten eich nicht losreißen und lasen dann die ganze Nacht laut, einander abwechselnd, wenn einer von beiden müde war. Als sie fertig waren, beschlossen sie einstimmig, sofort zu mir zu gehen.

„Was macht es schon, wenn er schläft, wir wecken ihn eben, dies ist wichtiger als Schlaf.“

Sie blieben dann ungefähr eine halbe Stunde da, und wir sprachen Gott weiß was in dieser Zeit, in Ausrufungen, überstürzt, einer verstand den andern im Fluge. Wir sprachen von Gedichten, von der Wahrheit und von Gogol, aber vor allem von Belinski.

„Ich bringe ihm noch heute ihre Erzählung. Sie werden sehen, das ist ein Mensch, und welch ein Mensch! Sie werden ihn kennenlernen, Sie werden sehen, was für eine wundervolle Persönlichkeit er ist!“ rief Nekrassow begeistert und schüttelte mich mit beiden Händen an den Schultern.

„So, und nun schlafen Sie, schlafen Sie, wir gehen, und morgen kommen Sie zu uns!“

Als ob ich nach diesem Besuch hätte schlafen können! Welche Begeisterung! Was für ein Erfolg!

Nekrassow brachte Belinski noch am gleichen Tage das Manuskript.

„Ein neuer Gogol ist aufgetaucht!“ rief Nekrassow, als er mit den „Armen Leuten“ zu ihm kam.

„Bei euch schießen die Gogols wie Pilze aus dem Boden“, bemerkte Belinski streng, nahm aber das Manuskript.

Als Nekrassow am Abend wieder zu ihm kam, empfing ihn Belinski „einfach aufgeregt“.

„Bringen Sie ihn, bringen Sie ihn schnell zu mir!“

Dann führten Sie mich {also schon am dritten Tag) zu ihm. Ich erinnerte mich noch, daß sein Äusseres mich auf den ersten Blick sehr überraschte. Seine Nase, seine Stirn — ich hatte mir ihn aus irgendeinem Grunde ganz anders vorgestellt, diesen furchtbaren, diesen strengen Kritiker.

Er sprach freudig, mit leuchtenden Augen.

„Ja, verstehen Sie denn überhaupt selbst“, fragte er mich mehrere Male fait schreiend, wie es seine Gewohnheit war, .was Sie da geschrieben haben?“

Er schrie immer, wenn er aus einem starken Gefühl heraus sprach. „Sie haben dies nur aus Ihrem unmittelbaren Instinkt als Künstler schreiben können, aber haben Sie selbst diese furchtbare Wahrheit, die Sie vor uns hingestellt haben, ganz durchdacht? Ist es möglich, daß Sie mit Ihren zwanzig Jahren dies schon verstehen ... Sie haben das Wesentliche getroffen. Sie haben das Allerwichtigste mit einem Schlag aufgezeigt. Ihnen ist die Wahrheit offenbart und verkündet, als Künstler ist sie Ihnen zuteil worden wie ein Geschenk.

Schätzen Sie diese Gabe, bleiben Sie ihr treu und werden Sie ein großer Schriftsteller!“ Ich verließ ihn wie berauscht.

Mit allen Fasern meines Wesens empfand ich, daß ich einen feierlichen Augenblick durchlebt hatte, einen Umschwung für immer, daß etwas ganz Neues anfing, und zwar etwas, was ich damals auch in meinen leidenschaftlichsten Träumen nicht vorausgeahnt hatte.

Es war der berauschendste Moment meines Lebens.

Deutsch von Monique Humbert, Zürich.

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