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Digital In Arbeit

Meine kleinen Minderheiten

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In ihrer Forderung nach Förderung kennen meine Minderheiten keinen Spaß.

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In ihrer Forderung nach Förderung kennen meine Minderheiten keinen Spaß.

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Ich bin meine eigene Minderheit. Genauer gesagt: Ich leide als „schweigsame Mehrheit“ unter meinen lauthalsstarken Minderheiten. Aus mir recht nahestehenden Gründen fordere ich daher einen besonderen Mehrheitenschutz. Als zwar nicht immer und überall liebens-, dafür aber erhaltenswertes Mitglied meiner Gegen weit begründe ich die Forderungen wie folgt: ■ Als Gestalter von Mehrheitsprogrammen für Minderheiten in mehreren Medien bemühe ich mich unaufhörlich, meine „ach so vielen Minderheiten-Seelen in der Brust“ zusammenzuhalten.

■ Die (Atom-)Kernminderheit bin ich selbst: tapfer in meiner Feigheit vor dem Freund, geradlinig auf meinen Lebenslinienserpentinen, fleißig im Vertuschen meiner Faulheit.

■ Rund um diese essentielle Kernminderheit leben, verstreut in der Diaspora meiner Seele und Vergan genheit, die anderen Minderheiten: Juden, Evangelische, Kommunisten, Revolutionäre, Asylanten, Sozialisten, Zionisten, Studenten, Soziologen, Beamte, Publizisten, Mehrfach- Ehemänner, Schlaraffen und Freimaurer. Meine Minderheiten provozieren auch Widersprüche:

■ Die „No-Sportler“ lehnen Schulturnen ab und sich gegen poröse politische Systeme auf; genauso gegen Mathematik.

■ Die „Njet-Mobilitätler“ rennen illegal über Grenzen, fliegen aus der Schule und nach Israel, gehen meilenweit wandern und zwei Ehen ein, warten täglich auf den Bus und Messias, rasen am Rasen vorbei, ohne ihn je zu betreten und stehen genauso vor ihren Entlarvern.

■ Die „opportunistischen Oppositionellen“ vertreten immer eine andere .Meinung, selbst dann, wenn«sie die eigene ist. Sie sind dafür, dagegen zu sein, lassen sich von inneren Trieben und äußeren Tritten lenken. Sie verhungern vor vollen Schüsseln und schrecken vor illuminierten Politi-* kern zurück.

Meine Minderheiten sind aktiv, agil und aggressiv, sie sind ständig beleidigt. Dadurch unterscheiden sie sich von den echten Minderheiten, die stets lahm lamm fromm, geduldig und mit allem zufrieden sind. Wie vegetarische Priester die Fleischeslust, bekämpfen meine Minderheiten — im Gegensatz zu den echten — jedwede Assimiliation und unter Integration verstehen sie die kompromißlose Beachtung ihrer Eigenheiten. In ihrer Forderung nach Förderung kennen meine Minderheiten - gleichfalls im Gegensatz zu den echten - keinen Spaß. Und wenn sie schon über etwas lachen, dann über die Gaben ihrer Gönner. Minderwertige Mehrheiten fürchten mehr wertige Minderheiten. Die Freiheit der Wenigen beschränkt sich auf die Wahl ihrer Ausrottung. Die weitschweifige Kurzsichtigkeit einiger meiner Minderheiten tritt gerne an die Stelle weitsichtiger Kurzfassungen der eigenen Biographie und auf ihre Hinrichtungsstätte.

Ich liebe meine Minderheiten, sie sind das Salz der (Bluthochdruck-) Erde und fallen Manna gleich, wenn auch ohne Fallschirm, vom Himmel. Ihr Einsatz, als Lohn ihres Aussatzes mißverstanden, wird von der Mehrheit von Zeit zu Zeit honoriert: Ihr Vermögen wird ein- und sie ausgetrieben; der Mordsspaß verliert seinen Humor und ihr Ende bedeutet nur für kurze Zeit den Anfang der Toleranz.

Toleranz kann man nicht patentieren; das bewiesen schon die Nachfolger Josephs II.

Trotzdem: Mein großes Leben ist die Summe meiner kleinen Minderheiten. An ihnen wird mein Ansehen gemessen: Ist das, bitte, hier die Einfahrt nach Brüssel?

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