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,,Meine Tochter war ein Straßenkind"

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Zu dem zweifelsohne sehr engagierten Artikel über die „Wiener Straßenkinder" in der furche 9/96 möchte ich als vorübergehend betroffene Mutter den darin grundsätzlich vermittelten Eindruck, all diese Kinder kämen aus „desolaten" familiären Verhältnissen, schon deshalb entkräften, weil sich niemand selbstgefällig zurücklehnen sollte, und meinen, das gehe eben nur diese Familien etwas an. Auch die Gleichgültigkeit des Pressesprechers der So-zialstadträtin, mit der er auf die „Ausreißer, die es immer geben wird", hinweist, ist schockierend, aber leider ganz typisch für die politische Behandlung dieses traurigen Phänomens.

So wie viele Leser dieses Artikels habe ich auch geglaubt, daß natürlich die Bahmenbedingungen, unter denen ein Kind aufwächst, die Zuwendung, das „Lachen in den Augen der Mutter", die Förderungsmöglichkeiten und das Erfüllen von kleinen oder großen Herzenswünschen, die Kinder davor bewahrt, ins „Out", in die Selbstzerstörung - in eine soziale Randgruppe - zu schlittern.

Nun - viele „Szene-Kids" waren wahrscheinlich, so wie meine Tochter, schon im Volksschulalter sehr begabte Kinder, die mit Leichtigkeit gelernt, mit weißem Kleid oder schwarzem Anzug zur Erstkommunion marschiert und schließlich ganz selbstverständlich im Gymnasium gelandet sind. Dort gab es viel Lob über ihre Begabung und dementsprechend gute Noten. Für mich - wie für viele Eltern - war es selbstverständlich, ein „funktionierendes" Kind zu haben, so wie man fälschlicherweise annimmt, ein gut gefüttertes, gepflegtes und vielgeliebtes Kind könne nicht ernsthaft krank werden.

Nach und nach beunruhigte mich meine Tochter durch dauernde schlechte Laune, Antriebs- und Freudlosigkeit, zu der - äußerlich besehen - kein Grund feststellbar war. Ich tröstete mich damit, daß ich öfter Familien zu sehen bekam, in denen die halbwüchsigen Söhne und Töchter gelangweilt und verschlafen in die Welt blickten, und ich erinnerte mich an meine eigene Jugendzeit, in der mir die Welt der Erwachsenen unendlich eintönig, banal und verachtenswert erschienen war. Auch ich wußte damals nur eines: So wie meine Eltern wollte ich nicht werden.

So weit so normal.

Mit dem Wechsel der Schule in ein Oberstufengymnasium wurde dann schlagartig alles anders. Meine Tochter begann die Schule zu schwänzen. Zur Rede gestellt erklärte sie, lieber in einem Internat leben zu wollen. Gutes Zureden, Gegenargumente und schließlich Nachgeben - man möchte ja vor allem die Ausbildung nicht unterbrochen sehen. Sie wurde aber unterbrochen und was dann folgte, kommt offenbar auch „in den besten Familien vor".

Man weiß wochenlang nicht, wo sein Kind ist und ob es noch lebt. Die höhnischen Blicke der Polizisten nach der fünften Abgängigkeitsanzeige, das Aufschrecken bei nächtlichem Telefonklingeln, die Übernahme einer völlig betrunkenen oder aggressiven Tochter, wenn sie endlich aufgegriffen wird, die erniedrigenden Bügen der Fürsorgebeamten, „daß man offenbar als Eltern versagt hat". Miterleben, wie ein Kind schweigt, sich niemandem öffnet und nur mit der Batte auf der Schulter innig kommuniziert, die mit am schön gedeckten Mittagstisch sitzt. Verlaust, zerschlagen, bibbernd vor Kälte vor der Türe stehend, mit „Freunden", die sich bewaffnet als Beschützer aufspielen und ihren Paß fordern. Erleben, was es heißt, glücklich zu sein, wenn das Kind lebend vor der Türe steht, und es doch keine Sekunde in seiner abgrundtiefen Aggressivität zu ertragen. Aus dem Mund seiner Tochter zu hören: „Wenn ich draufgeh, geh ich drauf" und keinen Anhaltspunkt dafür zu haben, daß sie das nicht auch wirklich ganz ernst meint.

Die „gutgemeinte" Nachfrage von Bekannten, „was denn eigentlich die Tochter mache", die man vor kurzem in einer U-Bahn-Station betteln gesehen hat. Damit auseinandersetzen, welche Wirkung Anthepetan und Rohypnol in Verbindung mit Alkohol auf den jugendlichen Organismus hat, ob die „Schleppe" (eine in der Szene grassierende Hautkrankheit) behandelbar ist und ob die Gesundheitsschäden bei diesem Kind jemals . reparabel sein werden. Froh zu sein, daß die Anzeigen wegen Ladendiebstahls (von Wurstsemmeln und Coladosen) vom Staatsanwalt zurückgelegt werden und heute ein Jugendlicher in Österreich für Bagatelldelikte nicht vorbestraft wird.

Sich selbst und den Partner mit Vorwürfen zu quälen, wo der entscheidende falsche Satz gefallen ist, was man grundsätzlich falsch gemacht habe. Hätte man ihr den ersten Irokesen-Haarschnitt verbieten sollen? Hätte man ihr den Hund schenken sollen, den sie sich so sehr gewünscht hat? Hätte man damals nicht so böse reagieren sollen, als sie zum ersten Mal in einem Geschäft gestohlen hat? Hat man die Geschwister zu sehr bevorzugt?

Erst gibt man der Gesellschaft, dann den falschen Freunden die Schuld, und langsam lernt man, sein ramponiertes, krankes, verzweifeltes Kind zu akzeptieren.

Die Tragödie ist allerdings, daß oftmals die Behörde, an die man sich in höchster Not wendet, diese Kids gar nicht als „Kranke" behandelt, sondern eine Art Freibrief für Obdachlosigkeit ausstellt. Meiner Tochter wurde mit 14 geraten, sich einfach eine andere Familie zu suchen, wenn ihr die ihrige nicht passe. Sie hat natürlich - bestärkt durch diesen Fürsorgerinnen-Rat- gesucht und dabei viele Nächte in Waggons oder sonstwo übernachtet. Es wird also sehr oft diesen Kindern ein Ausmaß von Selbstverantwortung übergeben, das weder gesetzlich gedeckt ist („wenn etwas passiert sind Sie verantwortlich" wurde mir immer versichert), noch von diesen wackeligen jungen Menschen getragen werden kann.

Manche finden dann „Halt" in harten Drogen, manche finden „Halt" in extremistischen Ideologien oder Sekten und viele purzeln irgendwie - so wie sie hineingepurzelt sind - auch wieder heraus. Oft ist es allerdings so, daß die Bereitschaft zum Heraushanteln aus Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Schul- und Lehrab-brecherdasein zu einem Zeitpunkt kommt, zu dem die Familie und das gesamte soziale Umfeld emotional und finanziell derart überfordert sind, daß nur mehr eine „psychosoziale Krankenstation" helfen kann.

Es gibt heute Gott sei Dank eine Vielzahl von Projekten, die sich dieser jungen Leute annehmen, damit sie zumindest die Chance erhalten, ihr Leben zu ändern. Die Mitarbeiter dieser Projekte verstehen sich wie Ärzte und Pflegepersonal eines Krankenhauses, in dem ja auch nicht nur operiert und gepflegt wird, wenn die Genesung sicher erscheint.

Meine Tochter wurde in einem solchen (nichtstaatlichen, von der Caritas unterstützten, von Subventionsgeldern abhängigen) Projekt in Innsbruck („Insieme") aufgefangen, bevor sie zu harten Drogen griff und bevor sie sich in eine extremistische Ideologie verbiß. Ein bißchen Überlebensenergie war noch vorhanden, dort wurde sie professionell aufgebaut. Ihr „soziales" Immunsystem wurde durch eine Teilzeitarbeit gestärkt, ihre gesundheitliche Situation verbesserte sich, schließlich fand sie in ein geregeltes Leben zurück - und führt heute mit ihren Freunden das Leben ganz „normaler" junger Leute.

Wenn man sich also dem „Phänomen Straßenkinder" in Österreich ernsthaft nähern will, muß man sich über das Elternhaus hinaus auch die Jugendschutz- und Wohlfahrtsgesetze und den tatsächlichen Umgang damit anschauen. Zur Zeit warten die um Hilfe gebetenen Behörden darauf, daß diese Kinder „straffällig werden oder Drögen nehmen". Erst dann können sie eingreifen. Als Mutter oder Vater fehlt einem aber die Gelassenheit der Behörde.

Deshalb müßte man die unbürokratischen, meist kleinen „niederschwelligen" Jugendsozial-Einrich-tungen so finanziell ausstatten, daß sie nicht dauernd vom Zusperren bedroht sind. Sie arbeiten nicht nur viel billiger als staatliche Einrichtungen (zirka 20.000 Schilling kostet ein „betreuter Wohnplatz" für Jugendliche pro Monat), sie erreichen mit ihrem differenzierten Zielgruppenangebot auch mehr Betroffene. Das Problem dieser Kinder besteht ja oft nicht darin, daß sie kein Zuhause haben, das Problem ist, daß sie dieses ablehnen und viele anderen angebotenen Möglichkeiten (Heime, betreute Wohnplätze) auch nicht akzeptieren. Man muß also erst mühsam die richtige „Therapie" für sie finden.

Hilfe kommt für „Straßenkinder" in jedem Fall nur von dort sinnvoll, wo nicht Schuldige gesucht werden (was die Behörde schon oft aus Regreß-Gründen machen muß), sondern dort, wo alle „Menschen guten Willens" im Umfeld eines solchen Kindes klug unter sozialpädagogisch fundierter Anleitung zusammenarbeiten. Und das nötige Glück, damit es auch wirklich klappt, sei allerdings auch nicht verschwiegen.

* Name von der Redaktion geändert

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