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Melancholische Gedichte des Alltags

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Etwa Mitte Juli sollte es in Wien eine kleine filmische Sensation geben: angekündigt war der Streifen „Farinelli”, der vom berühmtesten Ca-strato-Sänger des 18. Jahrhunderts berichtet. Er wurde vom belgischen Regisseur Gerard Corbiau verfilmt. Schon 1988 drehte Corbiau den Film „Le maitre de musique”, mit Musik von Mozart, Mahler und Verdi.

Belgische Filme sind bei uns in Österreich kaum bekannt. In ihrem Umfang ist die Filmproduktion dieses Landes jedoch durchaus mit jener Österreichs zu vergleichen: auch dort werden im Durchschnitt etwa zehn bis zwölf abendfüllende Kinofilme und eine unbestimmte Zahl Fernsehfilme gedreht. Bei den internationalen Filmfestivals ist Belgien stets vertreten, oft durch Koproduktion mit Frankreich oder mit den Niederlanden.

Zum Begriff „belgischer Film” muß gleich etwas vorweggenommen werden. Als Folge der noch föderalistischen Struktur dieses Staates arbeiten die zwei Sprachengemeinschaften - die französische und die flämische -eher gegen als miteinander. Die er-stere sucht eine Partnerschaft mit Frankreich, und eventuell mit der französischen Schweiz, die anderen mit den Niederlanden. Ein kürzlich erschienenes Buch des belgischen Filmkritikers Patrick Leboutte heißt deshalb auch „Encyclopedie des cine-mas de Belgique”, das heißt es ist von den belgischen Filmkünsten - in der Mehrzahl - die Rede.

Es gibt allerdings nicht nur sprachliche Unterschiede, sondern auch solche in künstlerischer Hinsicht. Gemeint sind die in dem Land seit jeher sehr stark vertretenen unkonventionellen Filmemacher. Es begann schon in den zwanziger Jahren mit den surrealistischen Filmen von Charles De-keukeleire, Henri Storck, Henri d' Ursel und anderen.

Erst vor kurzem zeigte das alljährlich in Pesaro stattfindende Festival Cinema Nuovo eine umfangreiche Retrospektive belgischer Filme. So sah man etwa Chantal Akermans „Toute une nuit” (Eine ganze Nacht). Ihr Stil ist typisch für die Produkte des nicht-kommerziellen belgischen Films: lange, fast unbewegliche Einstellungen als Versuch, die wirkliche Zeitdauer einer Handlung zu konstruieren, gepaart mit kargen Dialogen. „Toute une nuit” zeigt leidenschaftslos den Verlauf einer warmen Sommernacht: Es treffen sich verliebte Pärchen, gehen auch wieder auseinander; eine frustrierte Ehefrau flüchtet aus ihrem tristen Heim, kehrt aber bald dorthin wieder zurück.

Ahnlich im Aufbau, aber noch viel prägnanter, ist „Dimanche” (Sonntag, 1963) von Edmond Bernhard, einem Regisseur, der sich mit nur sieben Kurzfilmen einen Platz in der Filmkunst geschaffen hat. Sein „Sonntag” ist ein melancholisches

Gedicht über die Leere - nicht nur die leeren Straßen, sondern vor allem die innere Leere der Menschen in ihrer Freizeit!

Soweit man von Filmkategorien sprechen kann, gehören die Filme von

Ein Brüsseler Stadtteil fiel der Spitzhacke zum Opfer

Boris Lehmann in jene von Akerman. Vor zwei Jahren konnte Lehman bei der Berlinale die Ehre für sich in Anspruch nehmen, den längsten Beitrag des Festivals gebracht zu haben: „Babel oder Briefe an meine Freunde, die in Belgien gebheben sind”, an dem er rund zwölf Jahre arbeitete. Er dauert über sechs Stunden und soll das Tagebuch von Lehmanns Reise nach Mexiko sein. Wer aber eine Fülle von exotischen Bildern aus dem Land der Azteken erhofft, erlebt eine herbe Enttäuschung. Was Lehmann aus Mexiko zu sagen hat, dauert kaum eine Viertelstunde - alles andere sind Gespräche, die er vor und nach der Reise mit Freundinnen und Freunden führte. Darum gibt es im Vorspann die Namen von Dutzenden „Darstellern”. Lehman kann aber auch anders sein, wie in seinem hochinteressanten Film über einen typischen Stadtteil von Brüssel, der inzwischen der Spitzhacke zum Opfer gefallen ist, zu sehen ist. „Magnum Begynasium Bruxellen-se” (1978) zeigt die Einwohner dieses Viertels, wie sie leben - oft am Rande der Armut-, womit sie sich beschäftigen - wie der Sammler von alten Spieldosen-, und wie sie sich unterhalten -indem sie gemeinsam robuste Lieder im Brüsseler Dialekt singen.

Überhaupt sind die belgischen Cineasten meistens ausgezeichnete Dokumentaristen, wie zum Beispiel Luc de Heusch mit seiner „Lecon de cho-ses”, einer bemerkenswerten Darstellung und Interpretation der surrealistischen Gemälde des Malers Rene Magritte. Von de Heusch stammt auch „Les gestes du repas”, eine Gegenüberstellung der Essensriten in den verschiedenen Kreisen unserer Gesellschaft. Es werden soziale Aspekte der Gegenwart vom belgischen Filmemachern durchleuchtet, so in „Bruxelles - Transit” (1980).

Samy Szlingerbaum, der früh verstorbene Sohn polnischer Emigranten (1949-1986), schildert darin den fast aussichtslosen Überlebenskampf seiner knapp nach Kriegsende in den Westen geflüchteten Eltern. Der belgische Film - eine bisher ignorierte Schatztruhe, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

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