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Mensch zwischen Macht und Leidenschaft

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ÄljaC Rächmanowa's neuer biographischer Roman c Hätfeäes Zärehofes“ (Öie Ehe Wíkhnttef PuscRkinf)?’Verlag Hüb'ör & 'Co.,' Fraüdp- feld, 390 Seiten, ist nicht eigentlich' das, was män einen „Puschkin-Roman“ zu nennen pflegt. Alja Rachmanowa hätte ihn schreiben können. Sie wußte viel, alles -von Puschkin, von der Wiege bis zum Grabe, .und durch jede Zeile ihres neuen Werkes sickert das gewissenhafte Quellenstudium .— die von ihr benützte Literatur, besonders Puschkins und seiner Freunde Briefe, am Schlüsse sauber aufgeführt, nimmt allein ohne Biographien acht Seiten mit etwa 250 Titeln ein! Abet die Dichterin Wollte es nicht. Sie schnitt bedacht aus dem nur 3 8jährigen Leben und Schaffen Puschkins einen schmalen Sektor (1828 bis 1837), einen allerdings, in dem sich die Konflikte und Gegensätze: Dichter und Höfling, Freiheit und Macht, Mann und Frau (Weibchen) überstürzen, verknoten und verkrampfen und dem bei allen modernen Formen antik-tragischen Katastrophenende zujagen, zuhetzen.

Da der Vorhang aufgeht, ist das Unheil schon zweifach eingefädelt. Einmal: Alexander Sergejewitsch Puschkin, geboren am 6. Juni 1799, ab 1817 Beamter, ab 1820 dichterisch tätig, 1820 von Zar Alexander 1. verbannt, aber später von Zär Nikolaj I. begnadigt, wird von da an zwar wieder schreiben dürfen („Eugen Onegin“ 1824 begonnen, „Boris Godunow“ 1825), zugleich aber in ein überaus zwielichtiges Verhältnis zum Herrscher treten. Nikolaus, absolutistischer Herrscher in Reinkultur, dem in. der Person des Generals Benckendorff eine Art früher Gestapochef ständig, zumeist unheilvoll souffliert, wird den Dichter in den nächsten Jahren nicht nur kontrollieren, zensurieren und drangsalieren, sondern auch unter den Augen der Zarin der jungen Gattin Puschkins in skandalösen Formen den Hof machen. Zum anderen: Der Blick, der den Dichter im Winter 1828 (damit beginnt der Roman) aus den seelenlosen Augen der blutjungen, bildschönen Natascha Gontscharowa trifft, ist sengend, verheerend, mordend. Die sechsjährige Ehe'mit der herz- und geistlosen Puppe ist eine Hölle für Puschkin. Am Ende steht Puschkins. Tod am 29. Jänner (man, liest bisweilen unrichtig 10. Februar) 1837 an den Folgen eines Pistolenduells mit dem Windhund Charles d’Arithės, der ein gewissenloses Verhältnis zu Natascha unterhalten hatte!

Kaum ein Jahrzehnt also , T-. aber. es schließt Himmel und Hölle ein. In ihm vollendet sich Ruß; lands erste nationale Dichtung: Puschkin leitet von der Romantik zum Realismus, von feyron zu Shakespeare uňd von der Anakreontik zur großen politischsozialen Tendenzdichtung des Jahrhunderts über.

Was für ein Mann! Was für ein . Stoff! Alja Rachmanowa hat ihn großartig angefäßt und in dreijähriger Arbeit bewältigt. Hinter dem bisweilen seelisch sezierenden, immer aber erregenden Geschehen taucht immer wieder mehr, Hintergründiges und Geheimnisvolles auf: Mannesnöt und Schöpferglück, Glanz und Schatten absolutistischer Macht und Pracht, Freiheit und Knechtschaft, vor allem aber jene undefinierbare Magie des russischen 19. Jahrhunderts; -jener iätselhafte, literarisch hochexplosiv verminte Weg .in unser Jahrhundert, da sich a)le dunklen Ahnungen und Aengste seiner Seher in apokalyptischer Weise erfüllen.

Dank der Dichterin: für die vielen Absichten; für die tiefen Einsichten, die uns dieses neue Werk der Verfasserin (ihm gingen die Romane über Tolstoj, Dostojewski, Turgenjew und Pauline Viardot, Sonja Kowalewski, W. F. Kommissarsheroskaja und „Die falsche Zarin“, voraus) vermittelt: in die russische Seele und in ein europäisches, weltweites Schicksal von gestern, das uns heute auszutragen auferlegt ist.

Von den großen Erzählern des vorigen Jahrhunderts haben vier, und ein jeder von ihnen aus unterschiedlichen Gründen, allen modischen Wandlungen des Geschmackes und der Empfindung standgehalten: Dickens, Balzac, Dostojewski und Tolstoj. Da eben die Schweizer Druck- und Verlagshaus-AG., Zürich, eine prächtige Neuausgabe von Charles Dickens’ „D a v i d C o p p e r f i e'l d" (in Halbleder) auflegt, bestätigt sie aufs neue das eigentümlich zähe Fortleben des zeitgebundenen, unrealistischen Romans im Realismus unserer Zeit, wofür das kluge und warme Nachwort Hans Eberhard Friedrichs eine plausible Erklärung gibt.

Merkwürdig: auf Jakob Wassermanns „Der Fall Maurizius“ (Lizenzausgabe für Büchergilde Gutenberg, 1957, 456 Seiten, S 48.—) scheint uns mehr Staub zu liegen als über „David Copperfield“, obwohl sein Autor noch vor 30, 40 Jahren den deutschen Bestseller par excellence verkörperte und noch nicht viel länger als 20 Jahre tot ist.

Für die Gestalt des Propheten Jeremias hat Franz Werfel in seinem kompendiösen, volltönenden Roman „Jeremias / Höret die Stimme“ (S.-Fischer-Verlag, 1956, 5 53 Seiten) ein starkes, modernes Gleichnis gefunden; er sieht in ihm den Mann im Kampf gegen die Staatsautorität, gegen die öffentliche Meinung und gegen falsche Propheten: „Größe, gibt es nur gegen die Welt“, sagt der Dichter darüber, „und niemals mit der Welt: die ewig Besiegten sind die ewigen Sieger, und die Stimme ist wirklicher als der Lärm.“

Im Eugen-Diederichs-Verlag ist als Band 6 der nunmehr abgeschlossenen „Gesammelten Werke“ Agnės Mie gels „Märchen und Spiele" erschienen (240 Seiten, DM 11.80). Er enthält zwei bisher unbekannte Erzählungen: „Das Märchen von Ali dem Dichter“ und „Das Mä'rchen von der Prinzessin Lale“, vier dramatische Spiele, darunter erstmals „Ossian“ („Der Tod .Macphersons“), ferner sechs Verdichtungen, darunter das ergreifende Hollenlied aus der ostpreußischen Heimat („lieber die Heide, die grüne Heide,: bin ich gegangen"), drei autobiographische Skizzen, ein , Nachwort Paul Fechters und eine imposante Chronologie 1901 bis 1951, die den großen Reichtum des Lebenswerks der 1945 vertriebenen, heute in Bad Nenndorf lebenden Dichterin aus dem Bernsteinland ausdrückt.

Zu einem „runden Geburtstag“ gab der Paul-

Zsolnay-Verlag, Hamburg-Wien, Ernst Lothars „Die bessere Welt“, Reden und Schriften, heraus (206 Seiten). Ein Buch der Gesinnung, des Bekennens und des Temperaments, um nicht zu sagen: der literarischen Besessenheit. Es umfaßt den verhältnismäßig kleinen Zeitraum, von 1927 bis 195 5, aber aus ihm kam eine berstende Fülle von Auftrag und Bewährung, die sich in begeisterten und kritischen Tönen, in Feier, Klage und Anklage manifestiert.

Reinhold Schneiders Erzählung „T a g a n- rog“ (4. Auflage, Verlag Herder, Freiburg 1957, SO Seiten) greift die geschichtliche Konjunktur auf, nach der Zar Alexander L, der Gegner Napoleons, entfernter Mitwisser an der Ermordung seines Vaters gewesen und darüber nach Jahrzehnten in schwere Gewissenskonflikte geraten sei. Er sei 1825 auf einer Reise nach Taganrog dort gar nicht gestorben, sondern habe mit Wissen seiner Gattin und einiger Getreuen den Tod nur vorgetäuscht, um an die Stelle eines nach Sibirien Verbannten zu treten und den Rest seines Lebens in Sühne und Buße zu verbringen. Ganz im Sinne der russischen „Schuld und Sühne" gestaltet Reinhold Schneider den kühnen Entwurf zu einem Drama herrscherlicher Gewissensentscheidung, das die Gnade zu Lösung und Erlösung führt. Die Sprache ist knapp, wortkarg und balladesk, aber von bebender innerer Glut und hinreißender Ausdruckskraft.

Drei Erzählungen von spröder Thematik und Sprache gibt Karl Benno von Mechow in dem

Bande „Sorgenfrei“ (Verlag Herder, Freiburg, 1957, 128 Seiten). Ein keusches Liebeserlebnis eines Reiteroffiziers auf einem estländis.chen Gutshof am Ende des ersten Weltkrieges („Sorgenfrei“), die trübe Geschichte vom „unwillkommenen Franz“ und seiner schlimm endenden Jugend und die unheimliche Begegnung eines deutschen Wanderers mit der Maffia auf Sizilien („Novelle auf Sizilien“) sind drei kleine Kunstwerke an Gehalt und Gestalt.

Nicht „ungemischte Freude“ bieten jeweils die Neuerscheinungen von „ro ro ro“. In der „Deutschen Enzyklopädie“ erfreut José Ortega y Gassets „Lieber die Jagd“ (Nr. 42), ein kluger und temperamentvoller Essay. In der Taschenbuchreihe folgt dem ersten Camillo-Band nunmehr G. Guareschis „Don Camillo und seine Herde“ (Nr. 231), in einigen Teilen noch reifer und amüsanter als der erste Band. Weniger Freude hat man mit Robin Maughams (Somersets Neffen) erotisch schwülem Roman „Das Bittere und das Süße“ (Nr. 230) und Colettes „Chér is Ende“ (Nr. 229).

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