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Menschen unter der Mitternachtssonne

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Menschen unter der Mitternachtssonne, Menschen, die jenseits .des Polarkreises leben — wer stellte sich da nicht wilde Gestalten vor, die, in Pelze gehüllt, die Harpune in der Hand, auf Seehunde und Eisbären Jagd machten? Solche romantische Erwartungen werden in Nordnorwegen bitter enttäuscht. Dort sieht man sidi Bewohner gegenüber, die ein bürgerliches Mitterding zwischen bescheidenen Kleinsiedlern, biederen Taxichauffeuren des Meeres und bedächtigen Fischern scheinen. Dies sind sie auch tatsächlich.

Der Lebensweg eines Nordnorwegers ist in normalen Zeiten ziemjich eindeutig und geradlinig vorgezeichnet. Zunädist fährt er etliche Jahre zur See. Die Handelsflotte

Norwegens, die im umgekehrten Verhältnis zur Einwohnerzahl des Landes eine der größten der Erde ist, steht fast ausschließlich in fremden Diensten. Nicht umsonst bezeichnet man die Norweger als die „Fuhrleute der Weltmeeje“.

Für junge unternehmungslustige Leute bietet sich da stets gute Verdienstmöglichkeit. An sie und nicht an lockende Abenteuer denkt der Norweger, wenn er sich anheuern läßt. Hat er sich entsprechende Ersparnisse zurückgelegt, kehrt er in die Heimat zurück, um sich eine Familie und eine Existenz zu gründen: ein kleines Häuschen, ein paar Kühe und Schafe, vor allem natürlich einen Kutter. Reicht es dafür nicht, muß es zumindest ein Kutteranteil sein.

Der Zusammenschluß zu kleinen Erwerbs-einhejten ist auch bei Handels- und Gewerbebetrieben in Norwegen derart allgemein, daß ihm die Gesetzgebung Rechnung getragen hat: schon mit 3000 Kronen Kapital kann man eine Aktiengesellschaft gründen. Die Folge: es wimmelt nur so von Aktiengesellschaften. Der kleinste Lebensmittelladen im entlegensten Dorf ist ebenso eine, wie die Schuhmacherwerkstätte, die neben den beiden Inhabern keinen einzigen Gesellen beschäftigt. Einem Geschäftsschild, auf dem hinter dem Firmennamen nicht „A. S.“ steht, begegnet man fast mit Mißtrauen.

Fischmarkt der “Welt

Ein so schwankendes Fahrzeug ein Kutter ist, bietet er doch eine sehr feste Existenzgrundlage, denn er gibt seinem Besitzer die Möglichkeit, am lukrativen Fischfang teil-*nehmen. Zur Zeit, da sich die großen Schwärme der Küste nähern, stechen tausende und tausende Kutter in See, meist in Arbeitsgemeinschaften um kleine Dampfer geschart.

Im Hafen von Svolvaer, dem Hauptort der Lofoten, treffen sie sich nach dem Fang zu einer geradezu unübersehbaren Flotte. Ans dem Gewimmel der kleinen Fahrzeuge ragen einige moderne Transportdampfer, die auf Fracht warten. In diesen Tagen ist

Svolvaer der Fischmarkt der Welt. Deutsche, englische, amerikanische Händler sind es hauptsächlich, die von Kutter zu Kutter steigen und ganze Landungen aufkaufen. Das Hotel, in dem sie untergebracht sind, trägt dem genius loci auf seine Art Rechnung: die Speisekarte weist ausschließlich Gerichte auf, die aus Fischen hergestellt sind. Trotzdem ist sie sehr abwechslungsreich. Sie verzeichnet nicht weniger als 49 Speisen, von der Suppe bis zum Pudding. Auch den kann man aus Fischen bereiten. Und er schmeckt nicht einmal übel.

So riesige Mengen an Fischen in Svolvaer jährlich feilgehalten werden, hat es sich doch noch nie ereignet, daß ein Fischer seine Beute

nicht losgeworden wäre. Schwanken die Preise auch nach Angebot und Nachfrage, reicht der Erlös doch immer aus, um ein Jahr davon wirtschaften zu können.

Die Nacht wird zum Tag

Einige Wochen Arbeit, um zwölf Monate davon zu leben, ein halbes Jahr ununterbrochener Tag, um dann die Sonne überhaupt nicht zu sehen — das ist ein ganz anderer Rhythmus, als wir ihn gewohnt sind. Natürlich färbt er auf die Menschen ab. In der Gelassenheit der schweigsamen und etwas schwerfälligen Männer spiegelt er sich wider. Die Frauen sind hingegen lebhafter' und wendiger, meist auch vielseitiger interessiert. Erklärung: sie sind stärker ans Haus gebunden und daher gezwungen, in der Kinder-und Jugenderziehung, im Verkehr mit Behörden und Nachbarn vielfach Aufgaben zu erfüllen, die anderswo den Männern zufallen. Dazu kommt noch, daß sie allerlei Künste und Fertigkeiten — Spinnen, Weben, Schneidern usw. — beherrschen müssen, um in der Weltabgeschiedenheit einen Haushalt führen zu können. Die nötigen Kenntnisse holen sich die Mädchen an den Volkshochschulen in den Jahren, da ihre männlichen Altersgenossen auf einem Frachter in der Welt herumgondeln. All dies führt in- der Familie häufig zu einer deutlichen Verlagerung des geistigen Schwerpunktes zugunsten der Frau.

Gleicherweise bei Mann und Frau wirken sich Landschaft und Lebensumstände in Begriffen von Raum und Zeit aus, die von unseren mitteleuropäischen grundverschieden sind. Es ist zur Zeit der Mitternachtssonne keineswegs eine Seltenheit, daß um ein Uhr nachts plötzlich die Bauern auf “den Feldern auftauchen, um mit der Arbeit zu beginnen. Da es ohnehin immer licht bleibt, kann man schöne Stunden zu jeder Tages- und Nachtzeit ausnützen. Dies wird derart zur Gewohnheit, daß die Dörfler sogar je nach der Witterung und nicht nach der Uhrstunde zum Kaufmann kommen oder das Postamt aufsuchen. Eile kennt natürlich niemand. Warum auch? Die Sonne scheint noch lange

und Hringende .Arbeit gibt es nur zur Zeit

des Fischfanges.

Mit seinen Vorstellungen von nah und weit . muß ,der Mitteleuropäer ebenfalls in einem Land umlernen, das im wesentlichen aus einer 3000 Kilometer langen Küste besteht. Oben im Norden liegt .oft die nächste Nachbarsiedlung 30 und mehr Kilometer entfernt; Überall kann der Blick fast ungehemmt über Fjorde und Inseih schweifen. Die offene Landschaft läßt ein eigenartiges Gefühl von Einsamkeit und Freiheit aufkommen. Auf sich allein gestellt, dünkt sich jeder leicht auf seinem Besitz als unbeschränkter Herr. Einst war er es sogar Die Fjordkönigtümer des Mittelalters werden-hieraus verständlich.,

Keine „nordischen Menschen“ im

• Norden

Wo bleibt der Typus des großen, blonden Norwegers? Wollte im hohen Norden jemand von nordischer Rasse spredien, müßte er sie füglich als südliche'bezeichnen. Je weiter m'an über den Polarkreis' vorstößt, umso seltener werden Wjkingergestalten mit germanischen Merkmalen. Zwei andere Völker treten in den Vordergrund': “Finnen, die an die Ungarn erinnern, Und Lappen, die nach Wuchs und Gesichtszügen den Mongolen zuzuzählen sind. Die beiden Gruppen haben sich mit den Norwegern und untereinander so mannigfach ■ vermischt, daß man wohl allen erdenklichen Abarten, kaum aber reinen Vertretern des einen oder anderen Stammes begegnet. -

Lutheraner, “Wiedertäufer und * Katholiken

Wie der volksmäßigen Zugehörigkeit nach, sind die Nordnorweger auch in ihrem religiösen Bekenntnis aufgespalten. Kaum weniger Seelen als die Protestanten, die sich übrigens von den deutschen Bekenntnissen merklich unterscheiden, zählen die Baptisten, in vielen Gemeinden sogar die Mehrheit. Durch ihre eigenartigen Bräuche und durch ihren unduldsamen Eifer stellen sie jedenfalls die auffallendste Gruppe dar. Merkwürdigerweise scheint die Sekte hauptsächlich bei den Mähnern verankert. Immer wieder stößt man auf Wiedertäufer, die “weder rauchen noch trinken und sich auch sonst peinlich genau an die strengen Vorschriften ihrer düster-freudlosen Religion halten, während sich ihre lebenslustigen Frauen bedenkenlos darüber hinwegsetzen. Die baptistische Lehre kommt offensichtlich krankhafter Grübelei besonders entgegen, in die man sich in der endlosen Winternacht allzu leicht ; verliert.

Protestantische Kirchen und baptistische -Bethäuser findet man überall im Land, katholische Gotteshäuser nur in den größeren Siedlungen. Die Katholiken sind eben nur als eine sdiwache Minderheit in die protestantisch'* baptistische Umwelt zerstreut, die ihnen vielfadi unfreundlich gegenübersteht. Für den Baptisten gibt. es kaum ein stärker herabsetzendes Wort als „Katholik“. Der äußere Druck hat die Katholiken aber nur umso fester zusammengeschweißt. An ihnen ist wieder das große . Wort wahr geworden: „Seht, wie sie einapder lieben!“ Diese Liebe \ wendet sich aber auch, ihren Bedrängern zu: die mustergültigen Krankenanstalten, die katholische Ordensfrauen in verschiedenen Städter unterb alten, stehen allen Siechen ohne Unterschied des Bekenntnisses offen. Sie erfreuen sich eines ausgezeichneten Rufes und einer Volkstümlichkeit, am besten jener vergleichbar, die das Spital der Barmherzigen Brüder in Wien genießt. Manches Baptisten-Knäblein. erblickte im St.-Elisabeth-Hospital von Harstad das Licht der Welt und mancher Protestant ist heilfroh, wenn er seine kranke , Gattin der aufopfernden Pflege katholischer Schwestern anvertrauen kann.

Gegen den Vorwurf der Baptisten, in den, Heiligenstatuen Götzenbilder anzubeten, wehren sich die Katholiken durch.eine Texttafel, die in jeder ihrer Kirchen neben dem Eingang hängt. In geschickter, volkstümlicher Form wird darin das Wesen der katholischen Heiligenverehrung1 dargelegt. Die Aufklärung besitzt gute Aussicht, empfänglichen Boden zu finden, da die katholischen Landesheiligen gleichzeitig allgemein als Nationalhelden gelten, so vor allem der heilige Olaf, der christliche König von Drontheim (1015 bis 1030), der im Kampf mit heidnischen Eindringlingen gefallen ist. Über dem Stein, auf dem er verblutete, erhebt sich heute der protestantische' Dom von Drontheim. Der Turm und die Zufluchtsstätte der heiligen Sonja, der Begründerin des Benedrktinerinnenordens in Norwegen, wird jedem Fremden mit Stolz gezeigt. Die heilige Frau hat damit ihrer Heimat eines der • spärlichen geschichtlichen Denkmale' gegeben. Sie selbst hat sich freilich noch ein'viel schöneres und erhebenderes gesetzt: ihre Töchter tragen noch heute den Geist katholischer Kultur und christlicher Nächstenliebe in alle Teile des Landes bis hinauf an-die Grenzen der Arktis.

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