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Mensdien, die wir nicht halten konnten

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Ich weiß, daß man seine Zuversicht lieber an Siegesnachrichten stärkt, als niederdrückende Tatsachen zur Kenntnis nimmt. Aber zur Ergänzung und Vervollständigung unserer Bilder von der Wirklichkeit dürfen wir das andere nicht übersehen. Es geht nicht immer nur vorwärts, sondern teilweise und stellenweise auch zurück. Wir gewinnen und verlieren zugleich.

Zwei Fälle haben mich in der letzten Zeit besonders beeindruckt. Der Kritiker wird sagen — und ich biete ihm gleich von vornherein die Handhabe dazu —, beide Menschen seien nidit typisch, sie seien vielmehr Einzelgänger und Randfiguren, aber dem möchte ich entgegenhalten, daß ihre Taten nur stärkere Ausblühungen von Vorgängen sind, die einen weiten Kreis betreffen. Nicht alle lösen es so radikal, aber Ansätze dazu sind mehr da, als es uns recht ist.

Also, da lebte ein braver Beamter mit akademischem Grad mitten unter uns. Er war über fünfzig und nicht verheiratet. Zuerst hatte er mit der Mutter beisammen gelebt und eine Braut gehabt, die ihn aber schließlich aufgab, weil sie sagte, sie könne mit dem Heiraten nicht bis zum Tod der Schwiegermutter Warten. Darüber kränkte er sich sehr, und als er bald darauf auch seine Mutter verlor, wurde es einsam um ihn, obgleich er eine Menge Bekannte, durchwegs religiös interessierte hochstehende Menschen, hatle. Im ersten Krieg war er eingerückt, im zweiten arbeitete er in der Heimat und verlor Wohnung samt Einrichtung. Am schmerzlichsten empfand er den Verlust seiner Bücher. Damals nahm er ein herrenloses Kätzchen zu sich, das klagend vor seiner Tür saß, als er vom Büro heimkam. In seinem Hause ereigneten sich im Laufe der Kriegsereignisse ganz ausgefallene Unglücksfälle, wo Menschen, die unendlich aneinanderhingen, auseinandergerissen wurden. Darüber grübelte er nach. Dabei ging er regelmäßig mit seinem Schott in die katholische Pfarrkirche. Ich kannte ihn persönlich nicht, sondern erfuhr nur durch einen gemeinsamen Bekannten von ihm, das meiste allerdings erst, als die Tragödie vollendet war. Als mein Gewährsmann ihn einmal nach dem zweiten Weltkrieg besuchte, da gestand der Doktor, daß er an der gött-

liehen Weltregierung zweifle. Dem Bösen räume Gott zu viel Raum ein, wie die jüngste Gegenwart im großen und kleinen ganz klar zeige. Wenn ein gütiger und allmächtiger Gott regiere, dann dürfe es nicht so zugehen.

„Haben Sie den Roman von Camus ,Die Pest', gelesen? fragte er.

„Nein“, antwortete der andere.

„Dann lesen Sie ihn und überlegen Sie sich den Tod des Kindes.“

„Sie fragen mit Camus nach dem Sinn der Leiden der Kinder. Wenn Gott uns Große straft, dann trifft es Sünder, ab“r was haben die Kleinen getan? So, nicht wahr?“

„Ja, diese Frage wird dort gestellt und der berühmte Prediger ist selbst davon

beindruckt und findet ebensowenig eine einsichtige Antwort wie unsere Prediger auf ihren Kanzeln.“

Der Freund sprach vom absoluten Glauben, daß wir es wie Job machen und auch den Herrn in seinem Zorn anbeten müßten.

„Auch lieben?“ fragte der Doktor.

Da wich der andere aus.

Als mein Bekannter ihn nach etlichen Monaten wieder besuchte, erschrak er über den Verfall des Mannes. Er war sichtlich herabgekommen und verstört. Bald kamen sie wieder auf sein Anliegen zu reden und der Doktor sagte:

.Sie kennen meine Katze.“

„Natürlich“, antwortete der Besucher, ,wo ist sie nur?“

.Ich habe sie weggegeben.“

.Warum?“

„Sie hat mich um den Rest meines Glaubens gebracht.“ .Wieso?“

.Neulich brachte sie ein junges Mäuschen daher, und ich glaubte, es 6ei tot, doch die Katze begann mit ihr zu spielen; ein entsetzliches, überaus grausames Spiel. Sie ließ das arme Tier laufen, sprang ihm nach und packte es wieder. Beinahe liebevoll hielt sie es fest, dann ließ sie es wieder laufen, um ihm neuerdings die Krallen in den Leib zu treiben. Langsam verzehrten sich die Kräfte der Maus, und als sie gar nicht mehr zum Spielen paßte, wurde sie aufgefressen.“

,Na, und?“

„Das beunruhigt Sie nicht? Ich verzichte auf eine Weltordnung, die auf diesen Gesetzen aufgebaut ist. Bei Mensch und Tier ist es dasselbe, eines cjuält das andere, sie fressen sich gegenseitig auf, und mit uns allen wird genau so gespielt.“

Was soll ich lange herumreden, einige Tage darauf fand man ihn im Keller erhängt.

Daran will ich gleich mein zweites Beispiel anschließen. Es betrifft eine vierzigjährige Witwe, die von einer Rente mit einer halbwüchsigen Tochter lebt. Sie ging aus Tradition fast jeden Sonntag in die Kirche und schickte auch ihr Kind in Messe und Kinderstunde. Sie hat eine Schwägerin, mit der sie sich nicht verträgt. Beide stritten, wo sie zusammenkamen. Die Frau wurde krank, und zwar bekam sie ein Ohrenleiden, sie lief viel zu Ärzten und in Spitäler, ohne daß es besser wurde. Da sagte die Schwägerin eines Tages:

„Ich weiß jemand, der dir vielleicht helfen kann“, und schickte eine Frau zu ihr, die gleich zu predigen anfing:

.Liebe Schwester im Herrn, Gott hat“ dir das Leiden geschickt, weil du wahrscheinlich mit den Ohren gesündigt hast, du mußt dein Gehör reinigen.“

„Ich war beim Spezialisten“, warf die andere ein.

„Die können nicht helfen, nur Gott kann es tun. Der Glaube wird dich gesund machen. Läutere dich, bete, dann wirst du gesund.“

Damit erreichte sie nichts, aber bald darauf wurde es so arg, daß die Kranke sich ins Bett legen mußte. Da kam die Gesundbeterin wieder und wich nicht von ihr. Sie betete und predigte und ließ keinen Arzt herbei. Dann trat eine deutliche Besserung ein. Aus Dankbarkeit ging sie in die Versammlung der Christian Science (Christliche Wissenschaft), eine amerikanische Sekte.

Der Glaube dieser Leute und das geschwisterliche Beisammensein machte größten Eindruck. Sie hörte auf, in unsere Kirche zu gehen und lief öfter zu den andern. Sie hat sich zu einem unserer Kirchenbesucher so geäußert:

„In der katholischen Kirche ist es so kalt. Jeder ist nur für 6ich und will an keinem andern anstreifen. Es ist alles nur äußerlich. Ich weiß nicht, ob die Leute überhaupt einen Glauben haben, die in der Kirche herumstehen, es sieht nicht danach aus. Wenn ich jetzt zurückdenke, wie ich selber dort stand, bezweifle ich es. Vielleicht ist es so etwas Kleines, Dunkles, Kaltes. Ich wundere mich, daß sie das befriedigt.“

Vor kurzem kam ihre Tochter nach der Messe zu mir und weinte.

„Herr Pfarrer, meine Mutter will aus der Kirche austreten, auch mich läßt sie

nicht mehr gerne in die Messe gehen. Was soll ich tun?“

Ich ließ mir erzählen, was sie wußte, aber die Mutter spricht sich nicht viel mit ihr aus. Ich versuchte zuerst, das Mädchen im Glauben zu festigen und an der Kirche festzuhalten. Was sich mit der Mutter tun läßt, kann ich noch nicht sagen.

*

Wie gesagt, beide Fälle gehen mir nicht aus dem Kopfe: der Mann, der sich aufhängte, weil er mit der Weltordnung nicht einverstanden ist, und die Frau, die zur Christian Science ging, weil dort mehr Glaube und Liebe ist.

Oh, wir sind uns alle einig, daß wir auf jeden Fall die Wahrheit haben und daß sie objektiv nicht recht haben. Wir kennen unsere Theodizee und die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche. Aber wir müssen uns bemühen, das Verhalten

dieser Menschen zu begreifen, denn es geht nicht nur um die beiden, sondern hinter ihnen stehen viele. Die Fragen um Gott und das Böse sollten wir ernster nehmen, und um die Vertiefung der Gemeinschaft unserer Gläubigen müssen wir uns stärker bemühen, sonst laufen uns immer mehr davon. Daß Laue und Faule abfallen, ist auch schlimm, aber nicht so erschütternd, als wenn uns ernste Menschen davonlaufen, weil sie keine Befriedigung ihrer religösen Fragen und Erwartungen finden.

*

Ich habe das Bild vor mir, wie das

Mädchen geschluchzt hat, da sie mir sagte, daß die Mutter austreten will. Ihr war es, als verlöre sie damit die Mutter. Müßten wir nicht mehr erschüttert sein, wenn uns Menschen mit religiöser Haltung entgleiten, weil wir es nicht vermochten, sie festzuhalten?

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