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Metropole der Banken und Bücher

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WEM ES NICHT GEGEBEN IST, sich in eine fremde Stadt so zu verlieben wie in eine schöne Frau, der bleibe besser daheim und hüte seine Grämlichkeit. Und wer, nach einer Fahrt durch die herbstroten Wälder des Spessarts, in Frankfurt am Main einkehrt und es, ohne sich in diese „geheime Hauptstadt“ der Deutschen der Jahrhundertmitte Hals über Kopf verliebt zu haben, verläßt ... Nun gut, der Winter steht vor der Tür und manchen zwackt sein Podagra.

In die fruchtbaren Ebenen zwischen Odenwald, Spessart und Taunus gebettet wie in eine Schmuckschachtel, liegt Frankfurt am gelassen dahinströmenden Main im Schnittpunkt alter Römerstraßen, beherbergt es seit eh und je die größten Geldleute Deutschlands, die mächtigsten Banken, seit dem Sturz Leipzigs große Verlage samt der alljährlichen Buchmesse, und einige sanfte Industriebetriebe, die weder Rauch noch Ruß noch Unrast verbreiten.

Wer heute den wahren Mittelpunkt Deutschlands sucht, wird nach Frankfurt geraten, und wer hier die Mitte findet, sitzt schließlich im „Kranzler“ in altvaterischer Atmosphäre bei erlesenem Kaffee und anderen Genüssen. Hier, womöglich aus der ersten Etage auf den kräftig pulsierenden Verkehr hinabblickend, mag er angeregt sein, über die Geschichte der Stadt zu meditieren, in der sich Karl der Große einen Königshof baute, in der Ludwig der Fromme sanftmütigen Herzens residierte, und die nach dem Verduner Vertrag Hauptstadt des ostfränkischen Reiches und damit Deutschlands war.

Wagt man zum Beispiel die Japaner als Preußen des Fernen Ostens zu bezeichnen, so ist es doch weniger gewagt, wenn einer die Frankfurter die Franzosen Deutschlands nennt. Hier gedeihen Toleranz und ein gewisses weibliches Etwas, das Zentren reifer Kulturen eignet, und das mainfränkische Idiom mit seinem Sprachgeschmack, der an das Bukett alter Weine erinnert (kostbarer Heiliger-Geist-Wein, aus Bocksbeutelflaschen zu trinken, gedeiht in der Nachbarschaft), drückt eher behagliche Weisheit aus als Härte, und Gewaltsamkeit ist da eine fremde Kategorie.

EINE ANEKDOTE BERICHTET, wie die seit 1245 unmittelbare Reichsstadt Frankfurt sieben Jahrhunderte später zur Buchstadt wurde. Als 1945 in Leipzigs trübsten Tagen die bis dahin gedrungenen Amerikaner ihre militärische Habe zusammenräumten, um nach unglückseligen Vereinbarungen den Russen Platz zu machen, packten sie einige hundert Verleger, Lektoren und sonstiges Verlagspersonal in einen Zug und dampften, „geistiges Deutschland“ auf Rädern mit sich führend, nach dem Westen. Just in Wiesbaden war ein Hotel frei, das die ganze buchbesessene Gesellschaft aufnahm. So nahm verlegerischer Tatendrang nun von dort seinen Ausgang, um früher oder später durch eine Reihe bedeutender Männer das benachbarte Frankfurt als endgültiges Ziel zu erkiesen.

Der österreichische Gast, Bücher des Insel-, des Fischer-, des Ullstein-, des Suhrkamp-Verlags im Handgepäck, mag nun den unklugen Rückzug der Amerikaner mit dem Räume überwindenden Genie der römischen Straßenbauer vergleichen. Denn der römischen Logik verdankt Frankfurt seine Entstehung im Kraftfeld kontinentaler Verkehrswege, seine darauf bauende Entwicklung, und zu guter Letzt als natürliche historische Folge seinen Weltflughafen: hier, am dichtest angeflogenen Punkt Deutschlands, kann man in einer halben Stunde ein Dutzend Düsenflugzeuge starten sehen, von den Propellerflugzeugen nicht zu reden.

WER GAR AUS WIFM KOMMT, ist in Frankfurt gleich zu Hause und braucht keinen Stadtplan, so ähnlich ist die Stadtstruktur: „Am Zeil“ spazierenzugehen gleicht einem Bummel über die Kärntner Straße, und wer zum Bahnhof will, wandert über die Mariahilfer Straße, die in Frankfurt Ka'serstraße heißt. Hier sieht er das freundliche Österreichische Verkehrsbüro, das für unser Land, und einen lebensgroß photographierten Peppi Stiegler auf Skiern (mit „pp“.'), der für seine engere Heimat wirbt. Straßenanlagen, die dem Ring und dem Gürtel gleichen, gibt es auch, und was zum Triumph der Ähnlichkeit fehlt, gibt der Main mit seinen friedlich dahinziehenden Prahmen dazu.

In der Paulskirche, wo zur Buchmesse österreichische Verlage nicht fehlen, erinnert man sich daran, daß Erzherzog Johann oft und gern in Frankfurt weilte, wo ihn die deutsche Nationalversammlung von 1848 zum Reichsverweser ernannte und wo er durch einen, ihm allerdings irrtümlich in den Mund gelegten Ausspruch: „Kein Österreich, kein Preußen, sondern ein einziges großes Deutschland, fest wie seine Berge!“ eine unbeschreibliche Popularität genoß. Doch auf einen Irrtum mehr oder weniger kommt es in der Weltgeschichte nicht an, zumal die Frankfurter auch bei anderer Gelegenheit (wie Stettenheims Wippchen gesagt hätte) „aus ihren Sympathien keine Mördergrube für Österreichs Herz“ machten und 1866 als einzige Bewohner einer Freien Stadt Deutschlands gegen Preußen und für Österreich stimmten.

WOLLTE EINER eine Weltgeschichte der Traditionen kompilieren, so stieße er unter jeglichem Breitegrad am Ziel seiner Forschung stets auf das Weib, das zu allen Zeiten die große Bewahrerin ist (und sich allüberall selbst unter den verzwicktesten Verwandtschaftsbeziehungen vollkommen auskennt, was einem Manne nie gelingt). Und, wie überall, wo Wein gedeiht, wo das Weibliche seine stillen Kräfte entfaltet, und, was im Dreiklang dazugehört, nicht der Gedanke des ruhelosen Jagens, sondern jener reifere des Säens und Erntens dominiert, ruht das Leben beharrlich in guter Tradition. So in Frankfurt, wo noch die konservativen Kräfte patrizischer Familien und universalen Gelddenkens hinzukommen.

Wer in den ersten Aufbaujahren nach dem letzten Krieg durch die furchtbar verheerte Innenstadt ging, fand sich plötzlich vor einem jener bürgerlichen Giebelhäuser, die einst den Charakter Alt-Frankfurts dargestellt hatten, und das nun recht einsam im Ruinengelände sich erhob, als sei es durch ein Wunder stehengeblieben. In Wirklichkeit war es wie durch ein Wunder als erstes wiederaufgebaut, millimetergetreu nach alten Plänen und Photographien, und mit jedem Detail: das Goethe-Haus. Nicht ein Verwaltungspalast oder ein Kaufhaus zuerst, sondern das Goethe-Haus als Ausdruck eines Geschichtsbewußtseins, das in sich seine ruhende Mitte weiß: das ist echt frankfurterisch. Und als das Goethe-Haus stand, konnte man beruhigt seinen Alltag weiter betreiben: Finanzburgen und Büroresidenzen errichten, eine Innenstadt, die absolut modern, doch selbst in Glas und Stahl (Glas dominiert in den Sichtflächen) aus einer dem instinktsicheren savoir vivre entstammenden Noblesse geboren ist.

FAST GLEICHZEITIG MIT DEM GOETHEHAUS wurde das „Kranzler“, in dem der Gast wohltemperiertes Gesellschaftsklima empfindet, wiedererrichtet. Ebenfalls im alten Stil, und Mädchen mit SpitzenhäubcVen bedienen wie vor zwanzig, vor fünfzig Jahren. Es ist, als sei das Malheur des Zweiten Weltkrieges nie passiert. Wie leicht kann eine solche Restaurierung ins

Auge gehen, wie leicht wird sie zum Kitsch, zum Potemkinschen Dorf, zur absichtlich täuschenden Fassade, zum Ausdruck einer Flucht ins Gestern. Überall wäre das möglich, doch nicht in Frankfurt; hier steckt Humor dahinter, genug Humor, auf daß die Noblesse nicht zu kühl sei, hier klammert man sich nicht an die Vergangenheit, sondern man besitzt sie; hier ist Tradition eine Geisteskraft, die das Heute durch maßvolle Tüchtigkeit schöpferisch bewältigen hilft.

Die herzhaft freundliche und kluge Menschenart, die Goethes „Hermann und Dorothea“ bevölkert, entstammt sichtbarlich seinen Frankfurter und mainhessischen Kindheitserinnerungen, und man meint allenthalben solchen Leuten zu begegnen. Nicht das attraktiv hochgedopte Verkaufsgirl herrscht in den Läden und im gewaltigen „Kaufhof“, sondern die eher mütterliche Frau in mittleren Jahren, die gelassen vernünftige Ratschläge erteilt. Dieser Frauentyp, den Seiten des unvergänglichen Versepos entstiegen und bis ins Alter bezaubernden Lächelns fähig, bestimmt das Umgangsklima der Stadt, in der nicht nur die Führer der Brain-Trusts zu Hause sind, sondern auch Mitteleuropas „Times“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit ihren 56 Redakteuren, ihrem souveränen Stil und ihrem weltweiten Einfluß.

DASS GOETHE SEINEM HERMANN IN DOROTHEA eine Salzburgerin erwählte, und eine so prächtige dazu, ist vielleicht mehr als ein Zufall, ist vielleicht eine unbewußte Reverenz des Dichters als Repräsentanten eines Menschenschlages gegenüber österreichischer Eigenart. Österreich hat Goethe dafür durch die Hafis-Übersetzung des Orientalisten Ham-mer-Purgstall Grundlagen zum „Westöstlichen Diwan“ geboten, während er seine weiblichen Inspirationen zur Suleika seiner Freundschaft mit der Linzerin Marianne v. Willemer verdankt.

Die Milliardensummen, die von Frankfurt aus dirigiert werden und in Deutschland, in Europa und in Übersee unauffällig ihre Arbeit leisten, lassen darüber nachdenken, daß die Symbiose Bank und Buch und Geld und Geist natürliche Wurzeln hat. Nicht der Krieg ist der Vater aller Dinge, wie Clausewitz meinte, sondern der Wohlstand, der Kulturen gedeihen läßt. Doch Clausewitz war kein Frankfurter, sondern, und das erklärt seinen Irrtum, ein preußischer General. Und Preußen, nachdem Frankfurt sich 1866 zur österreichischen Politik bekannt hatte, annektierte daraufhin die Mainmetropole rauh. Es besaß damit zwar das Goethe-Haus, doch nicht Goethes geistige Welt. Und damals mag es geschehen sein, daß Österreich in seiner Liebe zur vornehmen Reichsstadt und in seinem zur Ohnmacht verurteilten Zorn zerrissenen Herzens die „Frankfurter“ erfand, die in allen fünf Kontinenten „Wiener“ heißen. Und sie im Zeichen unwandelbarer Zuneigung auch aß und essen wird bis zum Ende aller Zeiten.

Siehe hierzu: Lily Stepanek: „Suleika“ (Marianne v. Willemer — ihr Liebesroman mit Goethe), Forum-Verlag, Wien-Hannover-Basel, 300 Seiten, Preis 85 S.

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