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Milchfrau in Ottakring

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Der Titel des letzten Teils der Trilogie „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod”, „Ehen im roten Sturm” und „Milchfrau in Ottakring” von Alja Rachmanowa war in den dreißiger Jahren in vielen Sprachen als geflügeltes Wort in aller Munde. Auch die ersten zwei Teile wurden viel gelesen, aber „Milchfrau in Ottakring” erreichte in wenigen Jahren eine Auflage von 600.000 deutschsprachigen Exemplaren und wurde in 21 Sprachen übersetzt. Es war eine authentische Milieuschilderung der kleinen Leute und des Wiener Vorstadtlebens um 1926/27, also in der Zeit jener leichten, kurzen Besserung, die heute gern, jedoch irrtümlich, zu den „Goldenen zwanziger Jahren” veredelt wird.

Was steckte hinter diesem halbvergessenen, für ältere Leser unvergeßlichen Werk, das jetzt nach langer Pause einen Neudruck erlebte, eingeleitet von dem souveränen Spurensucher Dietmar Grieser? Sein Kommentar ergibt einen Roman für sich. Alja Rachmanowa war ein Pseudonym der gebürtigen Alexandra Galina Djurra-gina aus Perm, einer luxuriös aufgewachsenen Arztenstochter. Die tief religiöse Familie wurde von den Sowjets enteignet und nach Sibirien verbannt, wo das Mädchen Psychologie studierte und den vormaligen Kriegsgefangenen Arnulf von Hoyer, einen österreichischen Aristokraten, kennen und lieben lernte. Er war dort geblieben und hatte ein Germanistikstudium absolviert. 1921 heirateten sie, 1922 kam Jurka zu rWelt, doch das Regime wurde immer argwöhnischer und härter: Im Herbst 1925 wurde die junge Familie (zu ihrem Glück!) ausgebürgert, ausgewiesen und abgeschoben. Am 17. Dezember

1925 kamen sie nach Wien, mit 235 Schilling und akademischen Diplomen, die hier nicht galten.

Schon mit 18 Jahren war unsere Autorin unermüdliche Tagebuchschrei-berin geworden, eine Gewohnheit, die sie in Wien fortsetzte: „Milchfrau in Ottakring” ist ein genau datierter, vermutlich stark redigierter Tagebuchauszug, der den mühsamen Anfang der Auswandererfamilie schildert. Ein Wiener Freund des Mannes aus der Kriegsgefangenschaft, in guten Verhältnissen lebend, streckte 3.000 Schilling unbefristet vor, und das Ehepaar erwarb eine kleine, total heruntergekommene Greißlerei, übrigens in Währing, nicht in Ottakring.

Die gelernte Psychologin beobachtete und bestaunte den optimistischen Gleichmut der Vorstadtarmut; gewiß, sie beklagten die Nachkriegsnot, setzten aber, beinahe paradox, stets hinzu: „Aber das macht nichts!” Heroisch bewältigte die verarmte Tochter aus wohlhabendem Haus die schwere Aufgabe, das schlecht gehende Geschäft zu konsolidieren, mit Kunden, die oft die Semmel mit dem Glas Milch nicht bezahlen konnten und „aufschreiben” ließen. Andere standen der „Ausländerin” mißtrauisch gegenüber und mußten psychologisch richtig behandelt werden. Währenddessen studierte der geliebte Ehemann mit eisernem Willen an der Universität, bestand seine Prüfungen und ließ die in Rußland erworbenen Diplome nostrifizieren.

Zwei Jahre später war es so weit, dank privater Protektion (also echt österreichisch) ergatterte er einen Posten als Mittelschulprofessor in seiner Geburtsstadt Salzburg. Man verkaufte das nun gut gehende Geschäft mit Gewinn, konnte die alten Schulden zurückzahlen und übersiedelte in die Festspielstadt.

Die von Jugend an literarisch am-bitionierte Frau hatte zwar längst Deutsch gelernt, schrieb aber weiter russisch. Die deutsche Fassung ihrer Bücher stammt übrigens (nirgends vermerkt) von ihrem Mann. Nachdem er 1970 gestorben war, hat sie nichts mehr veröffentlicht. Sie selber starb, 93jährig, erst 1991 in der Schweiz, wohin das Paar nach dem Krieg aus Angst vor der sowjetischen Besatzung übersiedelt war. Diese hatte durchgesetzt, daß Bücher der Exilrussin auch auf Deutsch nicht erscheinen konnten. Den Künstlernamen hatte die Autorin schon 1931 gewählt, um die Verwandten in Rußland nicht zu gefährden. Tragisches Detail: Sohn Jurka ist 23jährig knapp vor Kriegsende bei Wiener Neustadt gefallen.

Ich habe das Buch, damals bei Pustet herausgekommen, vor bald 65 Jahren gelesen. Die Lektüre des Neudrucks wurde zu einem Erinnerungserlebnis ohnegleichen, von der zu jener Zeit gefürchteten dominierenden „Hausmeisterin” angefangen, über das oft fatale Treiben der „Gassenbuben” und die ständig Schulden machenden „ausgesteuerten” Arbeitslosen bis zur täglichen Plackerei jeder Greißlerin, die um halb fünf Uhr zum Einkauf mußte, um einen 30 Kilo schweren Rucksack ins Geschäft zu schleppen, immer darauf aus, eine billige Einkaufsquelle zu finden, um einen winzigen Gewinn zu erzielen.

Die Familie hätte später von den Tantiemen der Rachmanowa gut leben können, doch arbeitete er weiter als Lehrer und sie als Dozentin für Kinderpsychologie.

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